Turbulenzen am Anleihemarkt Wie die Bank of England einen Lehman-Moment verhinderte

Schatten über der Londoner Börse: Zeitweise gab es keine Käufer für langlaufende britische Staatsanleihen. Quelle: REUTERS

Der Anleihe-Crash in Großbritannien hat offenbar einige Pensionsfonds an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Die Lage war brenzliger, als viele Investoren ahnten.

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Irgendwann am Mittwochvormittag stand für einen Augenblick die Altersvorsorge Hunderttausender Briten auf dem Spiel. Wäre die Bank of England (BoE) nicht eingeschritten, hätten die Verwerfungen am britischen Kapitalmarkt womöglich systembedrohende Ausmaße angenommen. Einiges deutet darauf hin, dass die Lage in London dramatischer war, als sie im Ausland, auch in Deutschland, wahrgenommen wurde – und dass die Gefahr für das Finanzsystem noch nicht gebannt ist.

Was war passiert? Großbritanniens neue Premierministerin Liz Truss und ihr Schatzkanzler Kwasi Kwarteng hatten Ende vergangener Woche umfangreiche Steuersenkungen angekündigt. Diese werden wohl größtenteils durch neue Staatsschulden finanziert. Die Nachricht löste bei Anlegern Panik aus. Das britische Pfund stürzte ab, ebenso die Kurse britischer Staatsanleihen, auch Gilts genannt.

Am Mittwochnachmittag schritt überraschend die britische Notenbank ein und erklärte: Um den Markt zu stützen, kaufe sie ab sofort britische Staatsanleihen mit langer Laufzeit. „Die Käufe sind strikt limitiert. Sie sollen ein spezifisches Problem am Markt für langlaufende Staatsanleihen beheben“, teilte die BoE mit. Die Entscheidung kam einer politischen Kehrtwende gleich. Eigentlich wollte die Notenbank nämlich in der kommenden Woche damit beginnen, ihren Anleihebestand zu reduzieren. Stattdessen kauft sie nun bis zum 14. Oktober Gilts zu.

Riskante Tauschgeschäfte

Ein Grund für die Intervention: Der Anleihe-Crash hatte einige große Pensionsfonds in Bedrängnis gebracht. Die sind in Großbritannien eine tragende Säule der Altersvorsorge. Sie versprechen Anlegern oft eine fixe jährliche Ausschüttung. Um diese Ausschüttung leisten zu können, investieren Pensionsfonds in der Regel einen guten Teil ihres Vermögens in festverzinsliche Wertpapiere, also in Anleihen – gern solche der heimischen Regierung. 

Zusätzlich sichern sie sich mit Swaps, einer Art finanziellem Tauschgeschäft, gegen Marktschwankungen ab und stellen sicher, dass sie ihre Zusagen in voller Höhe einhalten können. Im Fachjargon spricht man von Liability-Driven Investing (LDI). Viele Pensionsfonds hebeln ihre LDI-Investments zusätzlich mit Fremdkapital.

Die gehebelten Tauschgeschäfte wurden einigen Pensionsfonds in den vergangenen Tagen zum Verhängnis. Wenn die Kurse von Staatsanleihen nämlich zu rasch und zu tief fallen – und im Umkehrschluss die Renditen durch die Decke gehen –, müssen die Fonds ihren Tauschpartnern Sicherheiten nachschießen, weil ihre gehebelten Positionen dann im Minus sind. Genau das passierte. Nach Ankündigung der Steuersenkungspläne machte die Rendite zehnjähriger Gilts einen Sprung von rund 3,5 auf rund 4,5 Prozent.

Die Forderungen nach zusätzlichen Sicherheiten dürften massiv ausfallen, prophezeite Jim Leaviss, Fondsmanager beim britischen Investmenthaus M&G, bereits am Dienstag in einem Blogeintrag. „In Anbetracht der Ausmaßes, das die Aufwärtsbewegung bei den Renditen langlaufender Anleihen angenommen hat, werden sich viele Pensionsfonds Cash besorgen müssen, indem sie Wertpapiere aus ihren Portfolios verkaufen“, warnte er.

Leaviss behielt Recht. Berichten in britischen Medien zufolge waren mindestens drei Pensionsfonds plötzlich mit der Forderung nach Sicherheiten im Umfang von jeweils rund 100 Millionen Pfund konfrontiert (fast 112 Millionen Euro). Nur: Als die Fondsmanager am Mittwochvormittag Anleihen verkaufen wollten, um wieder flüssig zu sein und ihre LDI-Positionen offen halten zu können, da fanden sie offenbar für kurze Zeit keine Käufer.

„Der Anfang vom Ende“

Die Panik am Markt war so groß, dass schlicht keine Käufer da waren, die sich langlaufende britische Staatsanleihen ins Depot holen wollten. In der Folge drohte den Pensionsfonds, die in Schieflage geraten waren, die Insolvenz – mit mutmaßlich dramatischen Folgen für das britische Renten- und Finanzsystem. „An einem bestimmten Punkt am Mittwochmorgen hatte ich Sorge, dass das der Anfang vom Ende ist“, zitiert die „Financial Times“ einen nicht näher bezeichneten Londoner Banker. „Es war nicht ganz ein Lehman-Moment. Aber fast.“ Der Zusammenbruch der US-Bank Lehman-Brothers im Herbst 2008 gilt als Katalysator der weltweiten Finanzkrise.

Erst, als die britische Notenbank überraschend als Käuferin einsprang, entspannte sich die Lage. Die Renditen zehnjähriger Gilts sind seither leicht zurückgegangen, stehen jetzt bei knapp über vier Prozent. Die Notenbank wurde wohl auch deshalb aktiv, weil Pensionsfonds und ihre Tauschparteien, in der Regel große Investmentgesellschaften, vorsprachen und auf rasche Hilfe drängten.

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Ist die Gefahr für das britische Renten- und Finanzsystem nun gebannt, und damit auch ein ernstes Crash-Risiko für die Börsen auf dem europäischen Festland? Das ist schwer zu sagen. Die jüngsten Turbulenzen fallen in ein ohnehin schwieriges Umfeld: Ähnlich wie für deutsche Lebensversicherer ist die laufende Zinswende für Pensionsfonds ein zweischneidiges Schwert. Im September hob die BoE den Leitzins um 50 Basispunkte, also 0,5 Prozentpunkte, an. Für November erwarten Investoren einen weiteren Zinsschritt.

Langfristig kommen Pensionsfonds steigende Zinsen entgegen, weil sie mit höher verzinsten Wertpapieren ihre Zusagen leichter erfüllen können. Auf kurze Sicht bleibt die Lage aber angespannt: Steigende Zinsen sind einer von mehreren Faktoren, die derzeit die Kurse britischer Staatsanleihen drücken. Auf der Aktienseite sieht es nicht viel besser aus. 

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Alles, was Pensionsfonds verkaufen können, um Sicherheiten nachzuschießen und ihre Absicherungspositionen offen zu lassen, verliert also derzeit an Wert. Der Absturz des Pfunds verschärft die Lage noch. Möglich, dass dem britischen Finanzsystem doch noch ein Lehman-Moment bevorsteht. Das hätte Auswirkungen, auch über Großbritannien hinaus.

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