Flüchtlinge, Geringverdiener, Arbeitslose Darum braucht Deutschland mehr Wohnungen

Die Nachfrage nach günstigem Wohnraum steigt dramatisch an, nicht nur wegen des Zuzugs Hunderttausender Flüchtlinge. Experten rechnen mit einem Bedarf von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr – Zeit für eine Bau-Offensive.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Wer jetzt schon nur schwer eine Wohnung findet, müsse sich künftig auf noch härtere Zeiten einstellen, fürchten viele Kommunen. Quelle: dpa

Berlin „Wohin mit all den Menschen?“ Wie Stefan Raetz in Rheinbach bei Bonn grübeln täglich viele Bürgermeister in Deutschland über diese eine Frage. Schon heute fehlen im gesamten Land 800.000 bezahlbare Wohnungen. Mit den Hunderttausenden Flüchtlingen aus Syrien oder dem Irak, die wohl dauerhaft bleiben werden, zieht die Nachfrage nach preiswertem Wohnraum weiter an. Raetz treibt die Sorge, dass die Stimmung der Bürger bald kippt, wenn keine schnelle Antwort gefunden wird. Experten gehen davon aus, dass mindestens 400.000 neue Wohnungen im Jahr fertiggestellt werden müssten – statt wie zuletzt 260.000. Das wird nur möglich sein mit einem Mix aus Steueranreizen für private Investoren, sozialem Wohnungsbau und einem radikal entschlackten Baurecht.

„Wer es jetzt schon schwerer hat, eine günstige Mietwohnung zu finden, wird es künftig noch schwerer haben“, fürchtet Raetz. Das prosperierende Rheinbach mit seinen 28.000 Einwohner gilt als gute Wohngegend, jedes Jahr kommen etwa 300 Neubürger hinzu. Bauland ist knapp. Im Ort sind derzeit 500 Flüchtlinge untergebracht: in einem Hotel, in Sporthallen, von der Stadt gemieteten Wohnungen. Raetz sagt, auch um Wohncontainer werde man nicht herumkommen. Wo sie stehen, kann nicht gebaut werden. Und irgendwann, sagt Raetz, benötigen Flüchtlinge eine dauerhafte Wohnung.

Der Flüchtlingsstrom hat die Wohnungsprobleme in vielen deutschen Gemeinden nicht verursacht, droht sie aber massiv zu verschärfen. Nach Berechnungen des Verbandes der Wohnungswirtschaft GdW wurden seit 2009 jedes Jahr 37.000 Wohnungen zu wenig fertiggestellt. Vor allem junge Menschen aus dem In- und Ausland zieht es in Großstädte wie Berlin, Hamburg oder München. Thomas Bauer, Präsident des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, spricht von einer „anhaltenden Binnenwanderung“. Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) erzeugt die Zuwanderung nun einen zusätzlichen Bedarf von etwa 110.000 Wohnungen – pro Jahr. Der GdW beziffert den Zusatzbedarf auf bis zu 160.000.

Die großen privaten Wohnungsgesellschaften haben Bestände jahrelang lieber dazugekauft als diese selbst hochzuziehen und schwenken jetzt erst langsam in Richtung Neubau um. Für Deutschlands größten Wohnungskonzern Vonovia ist das seit etwa zwei Jahren ein Thema. „Bezahlbare Wohnungen, gerade in beliebten Städten, zu schaffen, wird eine große Aufgabe für die Immobilienwirtschaft und die Politik“, sagt Klaus Freiberg, der im Vonovia-Vorstand für das operative Geschäft zuständig ist. „Die Zuwanderung erhöht die Nachfrage gerade rasant.“ Der Konzern will seine Investitionen auf bis zu 500 Millionen Euro erhöhen: „Der Neubau in Form von Dachgeschossaufstockungen und Nachverdichtung wird dabei eine zunehmende Rolle spielen.“ Deutschlands zweitgrößter Wohnungskonzern Deutsche Wohnen will in den nächsten Jahren fast 9.000 Wohnungen bauen. Schwerpunkt ist Berlin, einige Projekte befinden sich auch in Frankfurt am Main und Düsseldorf.

Die Instrumente, um den Wohnungsbau anzukurbeln, müssen eigentlich nicht neu erfunden werden. Deutschland hat einige Erfahrung mit Flucht- und Migrationswellen, von den Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu den Russlanddeutschen. Auch der soziale Wohnungsbau hatte eine jahrzehntelange Tradition, bevor er seit den 1990er-Jahren zurückgefahren wurde. Die neue Herausforderung besteht eher darin, dass es schnell gehen muss. Außerdem sollen die Fehler nach der Wiedervereinigung vermieden werden. Damals waren infolge breit gefächerter Steuersparmodelle etliche Milliarden in zweifelhaften Anlageobjekten im Osten versenkt worden; gebaut wurde zu teuer und zu schlecht.

„Beim Tempo müssen wir auch 2016 noch zulegen“, sagt Bundesbauministerin Barbara Hendricks. Die nach ersten Berechnungen 2015 neugebauten 260.000 Wohnungen sind ihr zu wenig. „Das reicht nicht aus“, sagt die SPD-Politikerin. „Es ist völlig klar,dass es mehr werden müssen.“


Sonderausschreibung soll Investoren locken

Um mehr Kapital in den vergleichsweise renditeschwachen Markt für preiswerte Wohnungen zu locken, braucht es zusätzliche Steueranreize. Ein erster Vorschlag von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) liegt auf dem Tisch. Ob er ausreicht, wird derzeit in der Koalition diskutiert. Schäuble schwebt eine zeitlich befristete und regional begrenzte Sonderabschreibung vor. Gelten soll sie von 2016 bis 2018. Im ersten und im zweiten Jahr soll die Sonderabschreibung jeweils bis zu zehn Prozent betragen, im dritten Jahr dann neun Prozent. Hinzu kommt die normale Abschreibung von zwei Prozent. Räumlich begrenzt werden soll die Förderung auf Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten.

Wer preiswerten Wohnraum baut, könnte sich also nach Schäubles Vorschlag binnen drei Jahren insgesamt 35 Prozent seiner Investition vom Fiskus zurückholen. Für den Staat würden Regierungsinsidern zufolge dadurch insgesamt Steuerausfälle von knapp einer Milliarde Euro entstehen. Schäuble besteht darauf, dass sich die Bundesländer an den Lasten beteiligen. Außerdem sollen sie zusagen, den neuen Steuervorteile nicht mit einer Erhöhung der Grunderwerbsteuer wieder zunichtezumachen.

Schäubles Argwohn kommt nicht von ungefähr: Die Belastung durch die einzige von den Ländern allein festzulegende Steuer haben einige Landesregierungen bereits auf 6,5 Prozent hochgeschraubt. Wohnungskauf und Bauland wurden entsprechend teurer. 2015 dürfte die Steuer den Ländern gut elf Milliarden Euro gebracht haben.

Rheinbachs Bürgermeister Raetz findet, dass Schäubles Überlegungen in die richtige Richtung weisen. Denn prinzipiell sei privates Geld ja vorhanden. Nur dass es bisher eher in renditeträchtigere Einfamilienhäuser-Gebiete fließe als in den Mietwohnungsbau. Dies könne sich mit Steueranreizen ändern.

In der Bundesregierung sind sich die beiden federführenden Ministerien für Finanzen und Bau auf der Basis von Schäubles Vorschlag bereits weitgehend einig. Nun kommt es darauf an, die Bundesländer mit ins Boot zu holen. Danach könnte es schnell gehen: In der Bundesregierung wurde bereits das Ziel ausgegeben, den Gesetzentwurf für die steuerliche Sonderabschreibung schon im Februar auf den Gesetzgebungsweg zu bringen.

Gefeilt wird noch an Details wie der Frage, wie sich die Sonderabschreibung so ausgestalten lässt, dass Luxuswohnungen nicht „aus Versehen“ mit gefördert werden. Im Raum steht, die Förderung auf Herstellungskosten von 2000 Euro je Quadratmeter zu begrenzen. SPD-Chef Sigmar Gabriel hat außerdem ins Gespräch gebracht, auch die normale Steuerabschreibung für Wohnungsbauten von zwei auf drei Prozent im Jahr zu erhöhen. Ein Bündnis von 29 Interessenverbänden und Gewerkschaften („Aktion Impulse für den Wohnungsbau“) will den Satz sogar auf vier Prozent erhöhen. Dies würde allerdings etwa zwei Milliarden Euro und damit mehr als das Doppelte des Schäuble-Vorschlags kosten.

In Teilen der Regierung wird aber nicht ausgeschlossen, dass beides kommen könnte – Schäubles Sonderabschreibungen und Gabriels Vorschlag, die lineare Abschreibung auf drei Prozent zu erhöhen. Die SPD hatte das schon in den Koalitionsverhandlungen 2013 gefordert. Damals war sie aber an Schäuble gescheitert.

Politische Praktiker vor Ort wie Raetz warnen allerdings vor der Illusion, mit Steueranreizen alleine lasse sich das Problem lösen. Um das dadurch angezogene Geld verbauen zu können, müsse auch das Dickicht aus Bauvorschriften und -restriktionen gelichtet werden. „Das ist auch eine Chance, unser überbordendes Vorschriftenwesen wieder auf Normalmaß zurückzuführen“, sagt Raetz. Außerdem müsse Bauland schneller zur Verfügung gestellt werden können. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStGB) fordert deshalb, die Landesbauordnungen zu flexibilisieren, speziell bei Stellplatzpflichten, beim Schallschutz oder den Abstandsflächen. Die Kommunen wünschen sich außerdem einen Tritt auf die Preisbremse, um die Mieten im Zaum zu halten. „Die Kosten für den Wohnungsbau, wonach ein Quadratmeter im Schnitt 1500 bis 2000 Euro kostet, sind zu hoch“, kritisiert der DStGB.

Die Kalkulation in der Branche geht so: Wer für 2000 Euro pro Quadratmeter baut, muss für mindestens 13 Euro pro Quadratmeter vermieten, um keinen Verlust zu machen. Preiswert ist auch das noch nicht. Ein wichtiger Kostentreiber ist laut DStGB auch die am 1. Januar in Kraft getretene Verschärfung der Energie-Einspar-Verordnung (EnEV). Sie führe bei Neubauten zu Mehrkosten von bis zu zehn Prozent. Der Verband hatte deshalb – vergeblich – für eine Verschiebung der EnEV geworben.

Dabei ist das Baukostenproblem eigentlich ein politischer Dauerbrenner. Bereits kurz nach Regierungsantritt hat Hendricks ein „Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen“ ins Leben gerufen – auch als Gegenstück zur Mietpreisbremse, die von Experten vielfach als Investorenschreck gebrandmarkt wurde. Das Bündnis hat im November 2015 seine Empfehlungen vorgelegt. Sie sollen nun zu einem Zehn-Punkte-Programm gebündelt werden.


Bau bleibt verlässlicher Konjunkturmotor

Bereits versprochen hat Hendricks eine verbilligte Abgabe von Grundstücken aus Bundesbesitz, Förderanreize, und Vereinfachungen im Bauplanungsrecht – aber auch eine strukturelle Neukonzeption der Energie-Einspar-Verordnung und des Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes (EEWärmeG). Bis Mitte des Jahres soll ein unter Bund und Ländern abgestimmtes Konzept vorliegen. Die Bauwirtschaft verspricht sich davon, dass die kostentreibende Wirkung des Klimaschutzes gebremst wird.

Ein weiteres Elemente zur Kostendämpfung wäre eine für alle Bundesländer einheitliche Musterbauordnung, die Umplanungskosten zur Anpassung an länderspezifische Bauvorschriften ersparen würde. Selbst eine Rückkehr zum Plattenbau wird in Angriff genommen: Unter den Schlagworten „serielles Bauen“ sollen „zeitgemäße Formen des industriellen Bauens“ entwickelt werden. Die Bauweise mit vorgefertigten Elementen war nicht nur in der DDR bekannt, auch im Westen kam sie in Großsiedlungen zum Zuge. Jetzt soll unter Federführung des Bauministeriums eine Arbeitsgruppe „Serielles Bauen“ mit Verbänden der Bau- und Wohnungswirtschaft ins Leben gerufen werden.

Zu einem sinnvollen Mix gegen Wohnungsnot gehört Experten zufolge neben Steueranreizen und einer Vereinfachung des Baurechts noch ein weiteres Element: der soziale Wohnungsbau. Dieser liegt seit 2006 in der Verantwortung der Länder, wird aber vom Bund unterstützt. Der Bundeszuschuss an die Länder wurde bereits für 2016 bis 2019 auf eine Milliarde Euro im Jahr verdoppelt. Dem Städte- und Gemeindebund zufolge reicht das aber noch lange nicht aus: Der Bund müsse den Betrag nochmals verdoppeln auf mindestens zwei Milliarden Euro.

Rheinbachs Bürgermeister Raetz warnt aber auch hier vor unüberlegtem Aktionismus. Schließlich ist gerade der soziale Wohnungsbau für einige der schlimmsten Bausünden in der Republik verantwortlich. Das Entstehen von neuen Sozial-Ghettos müsse unbedingt vermieden werden, warnt er. Sozialer Wohnungsbau müsse dezentral stattfinden, eingebettet in den normalen Wohnungsbau.

Die To-Do-Liste der Politik gegen die Wohnungsmisere ließe sich noch erheblich erweitern. So fehlen zwar vor allem in Ballungsräumen freie Bauflächen, allerdings gibt es in einigen Regionen auch erhebliche Wohnungsleerstände. Das IW Köln geht in einer Studie davon aus, dass im Osten 560.000 Wohnungen ohne Bewohner sind, im Westen rund eine Million. Diese Flächen könnten zuerst saniert werden. Das Problem ist nur, Leerstand herrscht vor allem da, wo es keine Arbeitsplätze gibt: Für die Integration der Flüchtlinge ein schwerwiegendes Hindernis.

Gefahr droht einer Wohnungsbau-Offensive vor allem aus der Politik selbst. Wenn es um Geld und Kompetenzen geht, schenken sich Bund, Länder und Gemeinden üblicherweise gar nichts. In der Bundesregierung zeigt man sich jedoch zuversichtlich, dass zumindest eine rasche Einigung über Steueranreize gelingen könnte. „Die Gespräche sind vielversprechend“, sagte Hendricks: „Irgendwann bald werden wir den Knoten durchschlagen.“ Auch die Länder stehen im Wort. Sie hatten schon beim Flüchtlingsgipfel mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im September vereinbart, Anreize für den Neubau von preiswertem Wohnraum zu schaffen.

Gelingt es der Politik unter dem Druck der Flüchtlingskrise tatsächlich, den Wohnungsbau anzukurbeln, werden die positiven Effekte nicht lange auf sich warten lassen: Der Bau dürfte dann noch viele Jahre eine wichtige Stütze der deutschen Wirtschaft bleiben. So werden in diesem und im kommenden Jahr die Bauinvestitionen voraussichtlich um jeweils mindestens drei Prozent wachsen, erwartet das Kieler Institut für Weltwirtschaft. Das wären deutlich höhere Zuwächse als beim Bruttoinlandsprodukt insgesamt, das nach den Prognosen der meisten Institute nur um jeweils rund 1,8 Prozent zulegen wird.

Schwarzmalen will auch Rheinbachs grübelnder Bürgermeister Raetz nicht. Eine wichtige Botschaft hat er aber noch für den fernen Berliner Politikbetrieb: „Die Bürger müssen einbezogen werden.“ So müsse stets klar gemacht werden, dass für alle gebaut werde – nicht nur für Flüchtlinge: „Denn sonst kommt der Neideffekt hoch.“

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%