Augmented Reality Kontaktlinsen mit Bildschirm „in 10 bis 15 Jahren“

Experten glauben, dass schon in einigen Jahren Augmented-Reality-Kontaktlinsen möglich sind. Deren Bildschirme werden möglicherweise auf Graphen-Basis hergestellt. Quelle: Getty Images

Als Google 2015 mit seiner digitalen Brille scheiterte, wurde es zunächst still um Augmented Reality, die „erweiterte Realität“. Im Verborgenen reifte die Technik weiter – Experten erwarten schon bald ihren Durchbruch.

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Über der Abbiegespur schweben grüne Pfeile und biegen um die Straßenecke. Rote Warnzeichen begleiten eine Fußgängerin über den Zebrastreifen und am Straßenrand zieht der Schriftzug „Café“ vorbei – aber nur auf der Windschutzscheibe. Die echte Sicht des Autofahrers, erweitert (engl.: augmented) um digitale Infos aus dem Navigationsgerät wird bald Alltag, verspricht das Start-up Wayray. Dessen holografisches Navi heimste auf Messen schon Preise ein und soll 2019 in den USA und China auf den Markt kommen. Auch Apple meldete zuletzt ein Patent für eine Windschutzscheibe mit Augmented Reality (AR) an.

Um die Vorstellung, dass Menschen ihren Alltag bald virtuell angereichert sehen könnten, wurde es nach dem PR-Desaster um Googles mit Kamera ausgestattete AR-Brille Glass zunächst eine Weile still. Doch leise reiften Technik und Anwendungen für ein Comeback im großen Stil heran.

In fünf Jahren werde bereits jeder vierte Deutsche regelmäßig AR-Dienste nutzen, sagen der Digitalverband Bitkom und die Unternehmungsberatung Deloitte voraus. Schon in diesem Jahr soll es in Deutschland 2,2 Millionen aktive Nutzer geben. Denn auf Smartphones und Tablets ist AR schon jetzt im Aufwind.

Längst hat der Handel das Potenzial entdeckt und bietet Apps, mit denen Möbel im eigenen Wohnzimmer oder Kleidung am eigenen Körper ausprobiert werden können – nach dem gleichen Prinzip wie Social-Media-Apps wie Snapchat, die Nutzer mit virtuellen Masken in Echtzeit lustig oder hübscher aussehen lassen. Reiseführer und Museumsguides liefern mittels Handy-Kamera und Ortung gezielte Infos und lassen schon mal das Stadtmaskottchen die Führung übernehmen.
Das beim Erscheinen im Sommer 2016 von großem Hype begleitete AR-Spiel „Pokémon Go“ mit bislang 800 Millionen Downloads war nur ein Anfang. Erschienen die virtuellen Wesen zunächst nur recht flach über der Ansicht aus der Handy-Kamera, legten die Entwickler bereits nach: In einem Demovideo ist zu sehen, wie Pikachu und Co demnächst um Bäume oder Spaziergänger herumwuseln sollen.

Neue Prozessoren und Kameras mit mehreren Linsen erlauben zunehmend anspruchsvollere Spiele und Apps. „Das Entscheidende ist, dass zunehmend die nötige Hardware gegeben ist“, erklärt Christopher Meinecke von Bitkom. Apple und Google bieten neuerdings Plattformen für AR-Entwickler. Nach Ansicht von Apple-Chef Tim Cook könnte Augmented Reality so weltverändernd werden wie das Smartphone selbst.

Auch die Brillen selbst haben sich hinter den Kulissen etabliert. „AR-Brillen werden sich jetzt im Unternehmensbereich schnell und massiv durchsetzen, da sind wir jetzt schon dabei“, sagt Meinecke. „Ein Monteur bei Boeing wird nicht mehr lange mit einem physischen Handbuch hantieren, wenn er ein Flugzeug repariert.“

Die weiterentwickelte Version der bei Verbrauchern auch wegen Datenschutz-Ängsten gescheiterten Google Glass nutzen laut Google Konzerne wie Volkswagen und General Electric. Der Paketdienst DHL blendet – an manchen Standorten – auf Datenbrillen Arbeitsanweisungen oder Schulungsprogramme für Mitarbeiter ein. „Diese Technik hat zu durchschnittlichen Produktivitätssteigerungen von 15 Prozent geführt und gleichzeitig die Fehlerquote reduziert“, erklärt eine Sprecherin. Brillen wie die Hololens von Microsoft erzeugen Hologramme, die zum Beispiel als virtuelle Schalter mit der Hand im Raum bedient werden können.

Das Smartphone-Spiel Battue, in dem die Spieler zu virtuellen Auftragskiller und Gejagtem gleichzeitig werden, soll vor allem Manager locken. Doch der Nervenkitzel hat einen stolzen Preis – und zweifelhafte Methoden.
von Michael Kroker

Dass das virtuell erweiterte Blickfeld auch bei Verbrauchern einen erfolgreichen zweiten Anlauf starten wird, sind sich Experten sicher. „Eyeables“ – tragbare Elektronik rund ums Auge – böten sich als logisches Gegenstück zur sich rasant durchsetzenden Sprachsteuerung an, meint etwa der US-Technologie-Vordenker Stowe Boyd.
Auch Amazon, Heimat der Sprachassistentin Alexa, arbeite an einer dazugehörigen Datenbrille, berichtete vor einem Jahr die „Financial Times“. Geleitet wird das Projekt demnach vom Physiker Babak Parviz, der einst Google Glass mitentwickelte. Parviz machte schon 2009 Schlagzeilen: An der Universität von Washington testete sein Team erfolgreich Kontaktlinsen mit Schaltkreisen und Leucht-Pixeln.

Tatsächlich ist es womöglich dann gar nicht mehr eine Brille, die digitale Anreicherung ins Auge der meisten Betrachter bringt. „Langfristig kann ich mir vorstellen, dass es sogar eher die AR-Kontaktlinse ist“, meint Meinecke. Mit technologisch erweiterter Kontaktlinsen, die etwa Blutzucker messen, wird derzeit experimentiert. Berichten zufolge meldeten Samsung, Google und Sony bereits Patente auf Kontaktlinsen mit Mikrokameras an.

„Es würde mich nicht wundern, wenn wir in zehn bis fünfzehn Jahren AR-Kontaktlinsen hätten“, sagt Meinecke. „Mit denen läuft dann vielleicht nicht sofort jeder Zweite herum, aber jede Technologie startet langsam, bevor sie sich in der Breite durchsetzt.“

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