Chinas mächtiger Messenger WeChat – die App, die das ganze Leben digitalisiert

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WeChat bindet die Nutzer geschickt im eigenen Ökosystem

Dieses Prinzip eröffnet immer mehr Möglichkeiten: Rechnungen werden auf diese Weise beglichen, Taxis lassen sich bestellen, Leihräder entsperren, Kino- und Theaterkarten reservieren, in Shenzhen, Peking und Shanghai ist auch das U-Bahnfahren per WeChat möglich. Selbst ein Art Bestechung ist über WeChat drin: Im Unterverzeichnis findet sich auch das Symbol für „rote Taschen“, in China ein Synonym für Geldgeschenke – und damit für Bestechung.

Der Coup bei WeChat: Wie einst Apple beim App-Store externen Programmierern und Software-Entwicklern eine Plattform geboten hat, damit sie sich mit der Entwicklung neuer Apps austoben können, geht Tencent bei WeChat nun ähnlich vor. Mini-App in der App heißt die Lösung – Tencent stellt WeChat als Plattform zur Verfügung, auf der externe Anbieter ihre Anwendungen integrieren können. Im Unterschied zu anderen Apps müssen diese Mini-Programme nicht extra heruntergeladen und installiert werden – sie sind innerhalb des WeChat-Ökosystems sofort einsatzbereit. Oder wie es der Hongkonger IT-Experte Jonathan Lam formuliert: „WeChat ist eine Art Fernbedienung, die den ganzen Alltag digitalisiert.“

WeChat hat auch das Online-Marketing in China auf den Kopf gestellt. Viele Unternehmen besitzen gar keine Webseiten mehr in China: Ihre Mini-App in WeChat ermöglicht einen viel direkteren Kontakt zu den Konsumentinnen und Konsumenten. Obwohl WeChat mehrheitlich chinesische Nutzer zählt, ist Mutterkonzern Tencent an der Börse mehr wert als der im Rest der Welt weit verbreitete WhatsApp-Betreiber Facebook. Ende des vergangenen Jahres überflügelte Tencent erstmals die US-Konkurrenz. Facebook wird in New York derzeit bei rund 483 Milliarden Dollar bewertet, Tencent in Hongkong derzeit mit rund 491 Milliarden Dollar. Tencent gehört damit zu den fünf wertvollsten Unternehmen der Welt.

Angesichts dieses Erfolgs bieten auch in Europa immer mehr Geschäfte chinesischen Touristen die Bezahlung per WeChat an. Und die App findet auch schon die ersten Nachahmer – und zwar in Europa: Die Opensource-Messenger-App Telegram, die wegen ihres besonderen Datenschutzes oft als Alternative zu WhatsApp gefeiert wird. Gegründet 2013 von den beiden russischen Brüdern Nikolai und Pawel Durow, will Telegram eine neue Kryptowährung zu schaffen, mit der direkt aus der App heraus ebenfalls Käufe getätigt oder anderen Nutzern Geld überwiesen werden kann – nur mit dem Unterschied, dass anstelle einer klassischen Währung Überweisungen anonym vorgenommen werden können.

Mangelnder Datenschutz dürfte denn auch das größte Problem für Tencent werden, WeChat im Ausland zu etablieren. „Wie bei allen IT-Konzernen, die in China tätig sind, haben die chinesischen Behörden jederzeit auch Zugriff auf die Daten von Tencent“, warnt IT-Experte Wong. Schon jetzt gilt: Wer in der Volksrepublik eine Chat-Gruppe einrichtet, wird für deren Inhalte verantwortlich gemacht – auch politisch. „Zahlreiche Nutzer sitzen in China in Haft, weil sie KP-kritische Einträge gepostet haben“, sagt Wong. Diese Gefahr droht ausländischen Nutzern zwar nicht. Und doch: Wer WeChat nutzt, ist automatisch der Kontrolle der kommunistischen Führung ausgesetzt.

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