Eine Stadt im Hightech-Rausch „Shenzhen ist die Werkstatt der Zukunft“

Huawei in Shenzhen. Quelle: Getty Images

Versuchslabor des Kapitalismus und Werkbank der Welt: Die Industriestadt Shenzhen hat ein schlechtes Image. Dabei hat sich die Millionen-Metropole längst zu Chinas wichtigster Stadt der Erfinder gemausert.

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Xiao Li sprintet die vier Stockwerke hoch. Kein Aufzug? „Doch“, antwortet der 21-Jährige. Aber zu Fuß sei er schneller. Das Päckchen müsse schnell beim Kunden sein. Er ist Bote eines Lieferdienstes. „Zeit ist Geld in Shenzhen“, sagt er. „Einige Kunden können ganz schön böse werden, wenn die Ware nicht rechtzeitig ankommt.“

Shenzhens Wirtschaft boomt, zwei Branchen brummen besonders: Da sind zum einen die vielen Start-up-Unternehmen, deren Ingenieure und Techniker in der Millionenstadt vor den Toren Hongkongs an allerlei neuen technischen Prototypen tüfteln. Zum anderen sind es die Lieferdienste, die diese Neuentwicklungen zu den vielen Fabriken und Fertigungsstätten bringen, damit sie dort in großen Stückzahlen hergestellt werden, um sie dann auch schon auf den großen Elektromärkten zu verkaufen.

Finden sich an der Ware Fehler oder Verbesserungsvorschläge, werden die Teile sofort wieder zu den Entwicklern zurückgebracht, damit sie an einer Lösung arbeiten. Zu Tausenden düsen die Lieferanten auf ihren batteriebetriebenen Elektrofahrzeugen durch das riesige Stadtgebiet mit mehr als zehn Millionen Einwohnern. „Wir nennen uns auch die Ameisen Shenzhens“, sagt Xiao Li. „Und unsere Strecken, die wir hinterlegen, sind die Ameisenstraßen.“

Bis vor wenigen Jahren war Shenzhen wegen seiner vielen Fabriken, Fertigungsstätten und Lagerhäuser vor allem bekannt als „Werkbank der Welt“. In vielen Teilen der Stadt sieht es auch nach wie vor so aus. Kilometerweit erstrecken sich Werkhallen, Lagerhäuser, Baracken für die Arbeiter und breite Straßen, die wiederum allesamt vollgestopft sind mit Lieferfahrzeugen. Dazu der Smog, ein Dunst, der sich mit der schwülen Hitze Südchinas mischt und den Arbeitern zusätzlich den Schweiß auf die Stirn treibt.

Gleich an mehreren Stellen der Metropole ragen jedoch auch hochmoderne glitzernde Wolkenkratzer empor, die mit der berühmten Skyline der nur wenige Kilometer entfernten Finanzmetropole Hongkong mithalten können. Beide Metropolen bilden die Spitze des Perlflussdeltas, einer Region mit mehr als 60 Millionen Einwohnern. Gerade wurde eine neue Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke eröffnet, die die Region zu einem gigantischen wirtschaftlichen Kraftzentrum zusammenführen soll. Und seit einiger Zeit ist Shenzhen bekannt als „Chinas Silicon Valley“. Genauer: das „Silicon Valley der Hardware“.

Bis heute eilt China der Ruf voraus, zwar viel herzustellen. Als globale Ideenschmiede ist die zweitgrößte Volkswirtschaft lange Zeit nicht aufgefallen. Das soll sich ändern: Vor drei Jahren hat der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping die neue industriepolitische Strategie „Made in China 2025“ ausgerufen. Sein Land soll ein Land der Erfinder werden und zur führenden Hightech-Nation aufsteigen, so die Vision. „Industrie 4.0“ ist seitdem in Shenzhen und in ganz China in aller Munde – dahinter verbirgt sich die Verzahnung der digitalen Vernetzung mit der Fertigungsindustrie. Bis 2025, so das Regierungsziel, sollen 70 Prozent der in China genutzten Elektrofahrzeuge, Roboter und Hochtechnologieprodukte auf heimischem Boden hergestellt werden. Und an keinem Ort in China wird dieser Masterplan schon so konsequent verwirklicht wie in Shenzhen.

Shenzhen ist Chinas Versuchslabor des Kapitalismus

Dabei war Shenzhen noch zu Beginn der Achtzigerjahre nichts weiter als ein verschlafenes Fischerdorf, gelegen direkt an der hochbewachten Grenze, die die zu der Zeit noch streng kommunistisch geführte Volksrepublik von der damaligen britischen Kronkolonie Hongkong trennte. Dann kam Chinas Öffnungspolitik unter dem Reformer Deng Xiaoping. Er erklärte Shenzhen zum Versuchslabor des Kapitalismus, zur ersten Sonderwirtschaftszone. Die ersten Textilfabriken siedelten sich an, es folgten Fertigungsstätten für Spielzeug, Textilien, Kleinelektronik. Millionen Wanderarbeiter aus ganz China strömten nach Shenzhen.

Ausgerechnet der Elektronikzulieferer Foxconn, der für Niedriglöhne und Massenware steht, leitete die zweite industrielle Revolution in der Stadt ein: die zu einer Hightech-Metropole. Das taiwanische Unternehmen errichtete im Stadtgebiet riesige Fertigungsstätten für zeitweise mehr als 300.000 Mitarbeiter – zumeist Wanderarbeiter aus dem Inland, die für Sony, Nintendo, Apple und Hewlett-Packard Spielekonsolen, iPhones und Laptops zusammenschraubten. Aus den Wanderarbeitern sind zum Teil Unternehmer geworden, Ingenieure und Programmierer aus dem ganzen Land sind mittlerweile nachgezogen. Die Stadt erlebt einen gigantischen Startup-Boom. Die Gründer selbst bezeichnen sich als Macher. Sie leben nun über das gesamte Stadtgebiet von fast 2000 Quadratkilometern verteilt und arbeiten an neuen Prototypen.

Die ständige Verfügbarkeit all der kleinen Teile, die für ein neues Produkt nötig sind, macht Shenzhen zum Paradies für Bastler. Auf den großen Elektromärkten stöbern sie nach genau dem Schalter, Lichtleiter oder Speicherchip, den sie für ihre Erfindung brauchen und schrauben sie in irgendwelchen Hinterhöfen zu neuen Gadgets zusammen. Dabei entstehen dann Produkte wie ein iPhone für zwei Sim-Karten, Ping-Pong-Bälle, die von selbst zurückrollen oder Drohnen, die den Rasen sprenkeln. Die Ideen werden oft an große Player wie Xiaomi, Tencent oder Huawei verkauft.

Huawei, der Name fällt häufig in Shenzhen. Denn alle eifern Chinas ältestem Tech-Konzern, der dort seine Zentrale hat, nach. Mit seiner Netzwerktechnik ist Huawei bereits weltweit führend und liefert die Technologie, mit der Telekomkonzerne wie die Deutsche Telekom oder O2 ihre Netze bauen. Huawei ist inzwischen nach Samsung zum weltweit größten Smartphone-Hersteller aufgestiegen. Nächstes Ziel: Weltmarktführer werden. Und auch im Bereich der Künstlichen Intelligenz will Huawei an die Weltspitze, rüstet Shenzhen schonmal mit der Infrastruktur aus für ein intelligentes Überwachungssystem für den Verkehr oder baut Supercomputer, mit denen Daimler virtuell Autozusammenstöße simulieren kann und das CERN in der Schweiz Teilchen in der Cloud zur Kollision bringt.

Das alles lockt auch Investoren an, vom „Ökosystem Shenzhen“ spricht US-Investor Alan Chan, der für einen Hongkonger Wagnisinvestor arbeitet und in Shenzhen die Szene beobachtet. Huawei oder der Online-Konzern Tencent seien die Bäume, die für alle sichtbar sind. Den Bodensatz aber würden die vielen Hunderttausend kleinen Firmen bilden, die mit ihren Komponenten und Erfindungen den Großen zuarbeiten. „Die ganze Stadt ist eine Werkstatt für die Zukunft“, sagt Chan. Und: „Jeder, der eine Idee hat, kann sofort loslegen.“

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