JD.com mischt Alibaba auf Wie Chinas Online-Handel das Shoppen revolutioniert

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JD.com: Speerspitze der Künstlichen Intelligenz

Bisher sind die menschlichen Lieferanten für JD freilich noch unverzichtbar – und Liu hat ihnen viel zu verdanken. Dass er mit einem geschätzten Vermögen von 9,4 Milliarden Dollar zu einem der reichsten Männer des Landes aufgestiegen ist, konnte nur dank des Heeres an günstigen Arbeitern gelingen, die ihm in China zur Verfügung stehen.

Zehntausende Lieferanten hat JD unter Vertrag, die bei Wind und Wetter auf ihren roten Elektro-Tuk-Tuks mit Hunde-Logo, dem Erkennungszeichen der Firma, die Päckchen durch den chaotischen Verkehr chinesischer Städte fahren. Doch die Ansprüche junger Chinesen, die immer besser ausgebildet sind, steigen. Das setzt die Geschäftsmodelle von Firmen, die im bevölkerungsreichsten Land auf günstige Arbeiter setzen, massiv unter Druck. Zudem leidet das Land an einer alternden Bevölkerung und steuert auf einen Arbeitskräftemangel zu.

JD bildet in China die Speerspitze beim Versuch, mit Künstlicher Intelligenz und autonomen Robotern dem Kräftemangel Abhilfe zu schaffen – sogar in der eigenen Zentrale. Im Pekinger Südwesten, rund eine Autostunde vom Zentrum entfernt, erstreckt sich ein imposanter Glasklotz in die Höhe, 14.000 Mitarbeiter arbeiten hier. In der verwinkelten Lobby strahlen die weißen Marmorböden mit den Deckenleuchten um die Wette. Hier können die Angestellten einkaufen, Tee trinken, sich finanziell beraten lassen – und dienen dabei immer auch als eine Art Versuchsobjekte für neueste Technologien.

JD.com-Zentrale Quelle: Grainne Quinlan

So wie im unbemannten Mini-Supermarkt X. Wer einmal sein Handy dort beim Betreten scannt, kann sich Shampoos, Chips oder Eistee in den Einkaufskorb legen, das Erfassen der Waren und das Abrechnen übernehmen Kameras, die mit intelligenter Erkennungssoftware ausgestattet sind, ganz automatisch. Die ganze Welt staunt über zwei ähnliche Prototyp-Shops von Amazon in Seattle, weitere Amazon Go Shops sollen für Chicago und San Francisco geplant sein. Bei JD.com ist aus dem Experiment längst ein Business-Case geworden. 20 solcher X-Läden gibt es in China bereits, sie sollen noch in diesem Jahr auf mehrere Hundert erweitert werden.

In ländlichen Region hat der Konzern bereits seit 2015 erste Drohnen im Einsatz, die es leichter machen sollen, Waren in abgelegene Dörfer zu liefern. Ebenso gibt es erste Versuche mit Schwerlast-Drohnen, die nicht nur einzelne Pakete, sondern Nutzlast von bis zu 200 Kilogramm transportieren können. Und in Shanghai betreibt JD ein ganz besonderes Experiment: ein Logistikzentrum, in dem täglich 200.000 Bestellungen ohne menschliche Arbeiter sortiert, verpackt und zum Versand vorbereitet werden. Nur noch vier Ingenieure überwachen, dass alles funktioniert.

Zukunft auch über China hinaus gestalten

Der Wille, die Zukunft zu gestalten, hört nicht an den Landesgrenzen auf. Nachdem die Expansion in andere asiatische Märkte bereits Fahrt aufgenommen hat, will JD als nächstes in Europa angreifen, wo Vorbild Amazon das Geschäft dominiert. Die Pekinger arbeiten daran, ihre Dienste zunächst in Frankreich, dann in Großbritannien und schließlich auch in Deutschland verfügbar zu machen. Wann genau der Angriff erfolgen soll, will man noch nicht bekanntgeben.

Aber wie so oft bei Tech-Konzernen geht es nicht alleine darum, physische Präsenz zu zeigen. Der Händler aus China soll eines Tages zu einer globalen Plattform gedeihen, die Handel als einen Service für jede Marke, jeden Konzerne weltweit anbietet. „Die Zukunft heißt grenzenloser Handel“, sagt Vizepräsidentin Gloria Lee, die für das Marketing verantwortlich ist. Hilfestellung zumindest in den USA dürfte JD dabei von Google erhalten. Der US-Konzern will in den Online-Handel einsteigen und weiß anhand der Suchdaten, was Kunden begehren – hat aber keine Expertise in der Logistik. Die werden die Chinesen liefern.

Trotz des Expansionsdrangs hat der Aktienkurs von JD zuletzt geschwächelt. Nach einer steilen Rally im vergangenen Jahr sind die Papiere von Januar bis Ende September um knapp 50 Prozent eingebrochen. Analysten machen dafür zum einen die allgemeine Schwäche chinesischer Technologiewerte vor dem Hintergrund des Handelsstreits mit den USA verantwortlich. Für den letzten großen Einbruch sorgten jedoch Berichte über den JD-Chef selbst: Bei einer Reise Anfang September in die USA wurde Liu wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung vorübergehend festgenommen. Kurze Zeit später durfte er die Polizeistation wieder verlassen und ohne Auflagen nach China zurückreisen. Ein Hinweis, dass die Anschuldigung vorläufig nicht belegt werden konnte.

Die Märkte reagierten wohl auch deshalb so nervös, da der Verlust von Liu für JD weitreichende Folgen hätte. Mehr noch als ein Elon Musk bei Tesla oder früher Steve Jobs bei Apple gilt Liu als der alles entscheidende Visionär und Antreiber des Pekinger Unternehmens, der gern die Fäden selbst in der Hand behält.

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