Rasanter Aufstieg der Volksrepublik China – das schnellere Silicon Valley

Quelle: imago images

Mobiles Bezahlen, Läden ohne Menschen an der Kasse und Roboter, die die Arbeit in Warenlagern übernommen haben – China hat sich längst zu einer Technologie-Macht entwickelt. In welchen Geschäftsmodellen und Technologien hat sich das Land besonders gut entwickelt? Was kann sich ein Industrieland wie Deutschland davon abschauen? Wir widmen dem Thema eine neue Artikel-Serie.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Wenn Anita Huang aus dem Fenster auf Peking hinabblickt, kann sie in die Vergangenheit und in die Zukunft schauen. In die Vergangenheit, weil hier, an der vierten Ringstraße im Stadtteil Zhongguancun, sich einst die ersten Internet-Unternehmen Chinas ihre Bürotürme aufbauten. Unternehmen wie Baidu, heute eine der dominierenden Tech-Mächte Chinas. Huang nennt die Internet-Pioniere „Chinas Internet-1.0-Unternehmen“.

In die Zukunft schaut Huang, weil sie vom zehnten Stock ihres Konferenzraums aus auf den alten Pagodenturm der Peking Universität sehen kann und auf die benachbarte Qinghua-Universität. Die beiden Elite-Einrichtungen liefern den Nachschub für die boomende Wirtschaft in Chinas Tech-Viertel. Huang schaut dann weiter auf Hochhaustürme und breite Straßen herab, die längst über die vierte Ringstraße hinauswuchern – und sich auch in den kommenden Jahren noch weiter in Richtung Horizont ausstrecken dürften. Immer mehr Hochschulabsolventen gründen hier ihre Start-ups.

Anita Huang, Marketing-Chefin von Sinovation Ventures. Quelle: Grainne Quinlan

Das freut die Managerin, sie lächelt, denn Huang ist Partnerin bei Sinovation Ventures, einem der erfolgreichsten Wagnisinvestoren Chinas und immer auf der Suche nach der nächsten großen Idee. Gegründet wurde Sinovation Ventures 2009 von Kai-Fu Lee, einem der weltweit führenden Technologen auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz. Gut zwei Milliarden US-Dollar hat der Fonds bei Investoren eingesammelt – und bereits 15 Unicorns damit großgezogen. So heißen Jungunternehmen, die mehr als eine Milliarde US-Dollar wert und noch nicht an der Börse gelistet sind.

In Shenzhen und Shanghai das Morgen entdecken

Anita Huang ist als Marketingleiterin für das Wohlgedeihen dieser Firmeneinhörner maßgeblich verantwortlich. Besucher führt sie gerne zur Ahnengalerie der Sinovation-Ventures-Gründer, deren Porträts aneinandergereiht in einem langen Flur hängen. „Fünf unserer Unicorns sind KI-Unternehmen“ sagt die Chinesin, die früher bei Google und Yahoo gearbeitet hat, in perfektem Englisch mit amerikanisch eingefärbtem Akzent. Künstliche Intelligenz – das ist schließlich ihre Spezialität hier bei Sinovation Ventures.

Wer gestern verstehen wollte, wohin sich die digitalisierte Zukunft bewegt, der fuhr ins Silicon Valley. Heute lohnt es sich mehr, das Geld in ein Ticket nach Peking, Shanghai oder Shenzhen anzulegen. Die Regierung in Peking will das Land in den kommenden Jahren zum weltweiten Technologie-Führer verwandeln. Allein in Sachen Künstlicher Intelligenz soll bis 2030 in China ein 150 Milliarden US-Dollar schwerer neuer Markt entstehen. Dafür fördert Peking Viertel wie Zhongguancun und pumpt Milliarden in die aufblühende Tech-Industrie.

Und China ist auf dieser Fahrt Richtung Morgen schon ein gutes Stück des Wegs vorangekommen. Die Mischung macht dabei den Unterschied: Über 800 Millionen Chinesen sind heute ans Internet angeschlossen, die Bevölkerung ist technologiebegeistert wie kaum eine andere auf der Welt. Und es gibt noch Millionen Menschen jenseits der Top-Metropolen wie Shanghai oder Shenzhen, die darauf warten, ans Netz angeschlossen zu werden.

Die Regierung hat schon vor Jahren große amerikanische Tech-Konzerne wie Facebook ausgesperrt. Umso hungriger sind Gründerinnen und Gründer hier, sie stoßen auf Investoren mit viel Geld und noch mehr Appetit auf Risiko. Glücksspiel gehörte schließlich schon im alten China zum Leben dazu. Das alles hat das Land in wenigen Jahren auf eine höhere Stufe des digitalen Fortschritts gehievt: Ob Künstliche Intelligenz, Online-Handel, mobiles Bezahlen, Elektromobilität, Blockchain oder Hightech-Hardware – in China werden Technologiesprünge gemacht, wo Europa noch an Strategien feilt.

So wie bei Ant Financial, der digitalen Finanz-Tochter der Handels-Plattform Alibaba. Mit einer Bewertung von 150 Milliarden US-Dollar ist sie inzwischen fast doppelt so viel wert wie die US-Bank Goldman Sachs. Die Geldgeber sehen einfach mehr Potenzial: Alipay, die mobile Bezahlfunktion, hat alleine 520 Millionen Nutzerinnen und Nutzer und ist aus dem Geschäft mit dem digitalen Bezahlen per Smartphone und QR-Code aus dem Alltag vieler Chinesen nicht mehr wegzudenken. Auch das ist Teil des chinesischen Erfolgsgeheimnisses: Technologie beseitigt in China oft handfeste Probleme aus der alten, der analogen Welt. „Früher gab es viel zu wenig Geldautomaten in Peking. Inzwischen lebe ich seit ein paar Jahren bargeldfrei, weil ich alles per Smartphone bezahle“, sagt eine Führungskraft eines Unternehmensberaters.

Huaweis Palast der Innovationen in Peking

So wie bei JD.com, dem größten Online- und Offline-Händler Chinas. Das Unternehmen gilt als erstes weltweit, das Pakete an seine Kunden mit Drohnen ausliefert – JD.com erprobt das nicht zuletzt in den entlegenen Provinzen des viertgrößten Landes der Welt. Als nächstes will das JD.com-Management seine Logistikkette automatisieren. In Shanghai experimentiert das Unternehmen seit kurzem mit einem Warenlager, in dem nur noch Roboter arbeiten. Das kann man durchaus präventiv verstehen: China leidet an einer alternden Bevölkerung und steuert auf einen gewaltigen Arbeitskräftemangel zu.

Ein Blick in die JD.com-Zentrale. Quelle: Grainne Quinlan

Und so wie bei Huawei, dem ältesten Tech-Unternehmen des Landes. Am nördlichen Stadtrand von Peking hat sich der Konzern einen neuen Palast der Innovationen errichtet. Hier flanieren Besucher durch einen gigantischen Showroom vorbei an Supercomputern, Technologien für hyper-schnelles mobiles Internet und Verkehrsüberwachungssystemen für Millionenmetropolen, die auf Künstlicher Intelligenz basieren, als seien sie in einem Kunstmuseum. Inzwischen meldet Huawei die meisten Patente an – weltweit. Das nächstes Ziel für den Konzern aus Shenzhen: Samsung als weltweit größten Handy-Produzenten ablösen.

Ob das einfach ambitioniert oder nicht doch etwas größenwahnsinnig ist, steht noch nicht fest. Denn für die alte Tech-Garde, die Internet-1.0- Unternehmen, wie Wagnisgeldgeberin Huang sie nennt, ist das Jahr 2018 zu einem der schwierigsten ihrer Geschichte geworden. Die Investoren fürchten, dass bei den drei großen Konzernen Baidu, Alibaba und Tencent das Wachstum abflauen könnte. Hinzu kommen neue Vorgaben aus Peking, die selbst etablierte und allmächtig erscheinende Konzerne ins Wanken bringen können. So wartet die Tencent-Führung gerade darauf, ob ihre neuesten Online-Spiele von den Behörden überhaupt genehmigt werden. Laut dem Finanzdienst Bloomberg ist der Unternehmenswert von Tencent seit Januar und bis Mitte September um mehr als 100 Milliarden US-Dollar geschrumpft.

Überhitzung und Handelskrieg

Gerade im Geschäft mit Künstlicher Intelligenz schimpfen viele Investoren hinter vorgehaltener Hand über zu viele „Fake-KI-Gründungen“, also Start-ups, die sich KI auf das Logo drucken, obwohl sie mit der Technologie nicht viel zu tun haben. Der Markt gilt als maßlos überhitzt.

Ein Blick in Huaweis Innovationszentrum in Peking. Quelle: Grainne Quinlan

Auch bei der Kreativität der chinesischen Wissenschaftler ist Vorsicht angebracht: Zwar veröffentlicht China inzwischen beeindruckend viele akademische Arbeiten zum Thema Künstliche Intelligenz. Die Veröffentlichungen der amerikanischen Kollegen werden nach Abzug von Selbstzitierungen aber weiterhin viel öfter von anderen Wissenschaftlern erwähnt, hat Georg Stieler, deutscher Unternehmensberater aus Shanghai mit viel Einblick in die chinesische Tech-Wirtschaft, analysiert. Die Amerikaner bleiben damit relevanter. China ist zudem abhängig vom Import von Computer-Chips. Auf deren Leistungskraft baut der technologische Aufbruch. Dem Land ist es trotz Direktiven von oben allerdings bisher nicht gelungen, eine eigene starke Chip-Industrie aufzubauen. „KI-Chips sind die Achilles-Verse des chinesischen Tech-Traums“, sagt Stieler.

Überhitzung, sprunghafte Regulierung - und dann ist da noch der Handelskrieg, den US-Präsident Donald Trump angefacht hat. Bisher hat Trump wichtige Tech-Produkte wie iPhones von neuen Einfuhrzöllen verschont. Chinas Staatslenker Xi Jinping scheint vom amerikanischen Präsidenten dennoch überrannt worden zu sein. Chinas Strategie zum Schutz der heimischen Tech-Branche: Der Traum vom „Made in China 2025“, wie die Direktive zum großen technologischen Sprung in die Digital-Zukunft offiziell heißt, wird in den Staatsmedien immer seltener erwähnt. Es ist, als wolle ein ganzes Land seine Ambitionen verstecken.

----------------------------------------------------

Auf wiwo.de stellen wir ab Montag in einer Serie die neue Technologiemacht China vor. In welchen Geschäftsmodellen und Technologien hat sich das Land besonders gut entwickelt - und was kann sich ein Industrieland wie Deutschland davon abschauen? Und kann Fortschritt wirklich von oben einfach so verordnet werden?

An dieser Stelle verlinken wir nach und nach die Teile der Serie:

Wie China seine Bürger trackt - und Unternehmen davon profitieren

Innovation: KI für Xi

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%