Herr Professor Kempermann, es gibt seit Jahren das so genannte „Wandercoaching“: Die Klienten sind eingeladen, sich auf Waldspaziergängen zu neuen Ideen inspirieren zu lassen, körperliche Bewegung soll für Bewegung im Kopf sorgen. Was ist aus neurologischer Sicht von so einer „Kur“ zu halten?
Vom Grundgedanken her leuchtet das ein, denn der Zusammenhang zwischen körperlicher Bewegung und Denken gehört zu unserem evolutionären Erbe. Unsere Vorfahren, die einst die Bäume verließen, um die Savanne zu entdecken, sind dafür nicht nur mit einem Bewegungsapparat ausgestattet worden, der es ihnen ermöglichte, große Entfernungen zurückzulegen und dank des aufrechten Gangs einen guten Überblick zu haben. Sie waren auch mit einem Gehirn ausgestattet, das sie dazu befähigte, mit einer Fülle von Eindrücken und Erlebnissen zurechtzukommen. Beides, Gehen und Denken, die Fähigkeit zur räumlichen Bewegung und das Gehirn, sind in der Evolution wahrscheinlich gleichzeitig entstanden, und es liegt nahe, hier Wechselwirkungen zu vermuten. Die Evolution zeigt jedenfalls, dass Nervensysteme immer etwas mit Bewegung zu tun haben. Denken Sie an Bäume! Großartige Lebewesen, die sich mit ihren Zweigen und Blättern im Wind bewegen. Ansonsten kommen sie nicht vom Fleck, Nervensysteme haben sie nicht.
Ohne Nervensysteme keine Bewegung?
Bei vielzelligen Organismen gilt allgemein: Sobald eine gewisse Spezialisierung und Arbeitsteilung eintritt, hat das mit Mobilität, mit Bewegung zu tun. Ein Zusammenhang, der tief im Menschen sitzt: Letztlich, so könnte man sagen, sind unsere Gehirne entstanden, um Bewegungen zu ermöglichen. Mehr noch: Sie „können“ im Grunde nichts anderes als Bewegung. Auch das Sprechen ist ja eine motorische Aktivität.
Wie kommt, neurologisch gesehen, Bewegung zustande?
Indem Reize, also Informationen aus der äußeren Welt, in einen Reflex, eine motorische Reaktion umgewandelt werden. Wobei es eine Menge neurobiologischer Hinweise darauf gibt, dass es an vielen Stellen des Gehirns Abkürzungen zwischen der sensorischen und der motorischen Seite gibt. Die Vorstellung, dass der Mensch eine Eingangsseite habe - also Augen, Ohren und Nase - und dahinter eine große schwarze Kiste, das Gehirn, wo geheimnisvolle Dinge passieren und es auf dem Weg über die motorischen Areale zu einem Output komme, stimmt so nicht. Eingangs- und Ausgangsseite, sensorischer Input und motorischer Output, sind sehr eng miteinander verzahnt.

Und das gilt ebenso für den Zusammenhang von Motorik und Denken?
Ja, dass der fundamental ist für unser Leben, wissen wir schon aus dem Alltag: Dass wir uns geistig und körperlich erfrischt fühlen durch eine Wanderung, dass Schüler im Gehen Vokabeln lernen, dass Schauspieler ihre Texte hin und her laufend memorieren – das spricht für sich.
In Karl Marx Studierstube war, wie ein Biograf schreibt, der Teppich abgelaufen zwischen Schreibtisch und Regal...
Marx war offenbar ein Nachfolger der Peripatetiker, die im alten Athen zwischen Säulen wandelten und philosophierten. Auch in der Literatur finden wir diesen Zusammenhang von Gehen und Denken, von Jean-Jacques Rousseau und Henry David Thoreau über Thomas Mann bis zu Thomas Bernhard mit seinen rhythmisch bewegten Monologen. Es scheint so, dass dieses geistige Phänomen eine in einem schönen Sinne einfache, biologische Grundlage hat. Und was für uns Ärzte natürlich das Tollste ist: Gehen hilft uns nicht nur geistig auf die Sprünge, es ist auch noch gesund.
Wie profitiert unser Denken vom Gehen? Gibt es dafür empirische Belege?
Einiges lässt sich experimentell nachweisen. Vor allem die Dinge, die damit zu tun haben, dass unser Gehirn ähnlich einem Computer einer gewissen Taktfrequenz folgt, dass es sensibel auf Rhythmen reagiert. Jedenfalls lässt sich das aus der Elektroenzephalografie (EEG) ableiten. Es scheint, dass das Lernen gern bestimmte Taktfrequenzen vorfindet: Wenn ich von außen einen Stimulus setze, eine gewisse Rhythmizität, mit der die intrinsischen Taktfrequenzen gut harmonieren, dann fördert dies nachweislich das Denken. Ein klassisches Resonanzphänomen: Innen und außen sind im Gleichklang. Das ist übrigens auch der Grund, weshalb manche Leute gern mit Musik lernen, sofern sie ein moderates Metrum einhält, also nicht zu schnell und nicht zu langsam ist. Ganz ähnlich funktioniert Schamanenmusik oder Techno: Durch den gleichförmigen, monotonen Beat werden Trance- und Flow-Zustände erzeugt, da laufen innere und äußere Rhythmen synchron. Das hat eine Analogie zum Schlaf, wo das Gehirn ja auch in einen Zustand verfällt, der von solchen Rhythmisierungen geprägt ist.
Was wissen wir über die therapeutischen Wirkungen des Gehens?
Noch viel zu wenig. Aber so viel ist klar: Regelmäßige, moderate körperliche Aktivität, vom Treppensteigen bis zum Wandern und Joggen, schützt nicht nur vor Erkrankungen, sie wirkt auch stimmungsaufhellend, erfrischt Körper und Geist. Deshalb ist immer wieder vom „Superfaktor Bewegung“ die Rede – zu Recht. Es gibt keinen medizinisch messbaren, relevanten Faktor, der eine derart positive, durchschlagende Wirkung auf buchstäblich alles hat, was unseren Organismus betrifft, wie eben körperliche Bewegung: Sie ist ein wirklicher Alleskönner. Und das hat seinen Grund wahrscheinlich darin, dass unser Körper durch Aktivierung in einem prinzipiell anderen Gesamtzustand ist. Deshalb genügt es auch nicht, einzelne Aspekte herauszustreichen, etwa die bessere, leistungsfördernde Durchblutung des Hirns durch körperliche Aktivität – zumal wir wissen, dass das Gehirn seine Durchblutung ziemlich konstant und automatisch reguliert.