Björn Vedder „An Reichen wird das Problem des Systems deutlich“

Björn Vedder ist promovierter Philosoph und Literaturwissenschaftler. Im Oktober 2018 erschien sein Buch „Reicher Pöbel – Über die Monster des Kapitalismus“. Quelle: Robert Carrubba

Reiche halten sich nicht an Regeln und leben von anderer Leute Arbeit? Der Philosoph Björn Vedder erklärt, was diese Kritik über die Mittelklasse selbst aussagt, die sie äußert.

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Herr Vedder, der Pöbel gilt gemeinhin als ungebildet, unkultiviert und in der Masse gewaltbereit. Das sind keine Eigenschaften, die wir mit Reichtum verbinden. Trotzdem trägt Ihr Buch den Titel „Reicher Pöbel“. Warum?
Den Begriff des reichen Pöbels habe ich von Georg Wilhelm Friedrich Hegel entlehnt. Er bezeichnet diejenigen, deren Reichtum es ihnen erlaubt, sich aus der gegenseitigen Abhängigkeit zu befreien, in der die meisten Menschen leben. Diese Abhängigkeit hat aber auch ihr Positives. Sie zwingt Menschen, zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse auch die Bedürfnisse der Allgemeinheit zu befriedigen, sie bindet sie an die Gesellschaft. Hegel sieht darin eine gewisse Sittlichkeit, eine moralisch-soziale Qualität. Wenn ich meine ökonomische Souveränität und größere Freiheit nutze, um nur meine eigenen Interessen zu befriedigen, zeige ich eine gewisse Feindseligkeit gegenüber der Gesellschaft. Hegel sagt, der Reiche pöblisiert. Zu pöblisieren ist aber etwas, das mit ihm geschieht und er müsste schon über große moralische Kraft verfügen, um dieser extremen Form der Wohlstandsverwahrlosung zu entgehen.

Reiche und Superreiche polarisieren. Die meisten kennen persönlich zwar keine, haben aber dennoch eine klare Meinung über sie – zumeist keine positive. Woher kommt dieses negative Bild?
Das Bild war ja nicht immer negativ, sondern ist es erst geworden. In den Wirtschaftswunderjahren sagte John. F. Kennedy, das ökonomische Wachstum sei eine Flut, die alle Boote hebe, nicht nur diejenigen der Reichen. Diese Aufstiegshoffnung schuf eine versöhnliche Stimmung und die Popkultur stellte Reiche als Vorbilder dar. Ein gutes Beispiel dafür sind die Fotografien der High Society von Slim Aarons aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, in denen uns Reiche als schöne, entrückte und bewundernswerte Wesen gegenübertreten. Als die Politik in den Achtzigern immer neoliberaler wurde, veränderte sich auch die Bewertung der Reichen.

Woran machen Sie das fest?
Das zeigt zum Beispiel Bret Easton Ellis' Debütroman „Unter Null“, der 1985 erschien. Ellis schildert das Leben von Studenten aus reichem Hause – die sind ein wenig wie die „Rich Kids of Instagram“ heute. Sie sind reich und frei, in ihrer Freiheit aber ziel- und haltlos. Sie wissen nichts mit ihrem Leben anzufangen, außer eben auszuschweifen. Schließlich drehen sie ein Snuff-Video mit einem minderjährigen Mädchen, um in diesem willkürlichen Akt der Bosheit ihre Freiheit auch gegenüber den letzten sittlichen Tabus zu beweisen. Anhand dieses Wandels sehen wir: Das Bild der Reichen hängt an unserer Bewertung der ökonomischen Situation. Wir verarbeiten darin unsere Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste, die wir mit der Ökonomie verbinden. Die Bilder, die wir uns von den Reichen machen und die Geschichten, die wir uns über sie erzählen, helfen uns, die abstrakten Verfahren und unsichtbaren Kräfte der Ökonomie zu verstehen und vor allem zu bewerten.

Buchcover

Nun ist Ellis' Darstellung der High-Society-Sprösslinge reichlich brutal.

Für Ellis zeigt sich der Reichtum vor allem in einer überbordenden ökonomischen Freiheit, und diese Freiheit ist ein Ursprung des Bösen. Nach der Lehman-Pleite 2008 und in der folgenden Finanzkrise hat sich dieses Bild intensiviert und verfestigt – denken Sie an den Finanzinvestor V.M. Varga aus der dritten Staffel der US-Serie „Fargo“, der den Kapitalist als Raubtier verkörpert oder an Jordan Belfort, den „Wolf of Wall Street“.

Welche Aussagekraft kommt solchen fiktiven Darstellungen zu? Die medial dargestellten Reichen scheinen mir doch eher Karikaturen zu sein.
Diese kulturellen Imaginationen der Reichen sind nicht unrealistisch, nur zugespitzt. Sozialpsychologen weisen auf einer breiten empirischen Basis nach, dass es einen Zusammenhang zwischen Narzissmus und Egoismus auf der einen und der Höhe des Vermögens auf der anderen Seite gibt. Je reicher Menschen sind, desto schwerer fällt es ihnen, etwas für andere zu tun und eigene Interessen zurückzustellen. Insofern denke ich, dass die Kritik an den Reichen durchaus eine gewisse Berechtigung hat. Da sie jedoch auch ein Bild unserer Hoffnungen, Ängste und Wünsche ist, verrät sie viel über die Kritiker selbst, vor allem über das Bildungsbürgertum, das wir heute als neue Mitte kennen. Diese Hintergründe der gegenwärtigen Kritik an den Reichen zu beleuchten und zu zeigen, was diese Kritik über die Kritiker selbst aussagt, finde ich wichtig.

Was lesen Sie aus der Kritik heraus?
Das Bildungsbürgertum wirft den Superreichen vor, rücksichtslos die eigene ökonomische Überlegenheit auszuspielen und nicht mit anderen Gesellschaftsmitgliedern zu kooperieren. Dabei projiziert es jedoch nur die negativen Aspekte unserer Marktgesellschaft auf eine bestimmte Gruppe und dämonisiert diese Gruppe, um sich ihrer eigenen Profitgier desto ungenierter erfreuen zu können. Das ist heuchlerisch.

Inwiefern?
Weltweit betrachtet trifft dieser Vorwurf auf uns ebenso zu. Wir Menschen des globalen Nordens verhalten uns den Menschen des globalen Südens gegenüber genauso wie der reiche Pöbel sich gegenüber der Gesellschaft verhält. Wir nutzen unsere ökonomische Überlegenheit rücksichtslos aus und verhalten uns unkooperativ gegenüber den Armen dieser Welt, solange wir nicht dazu gezwungen werden. Und das gilt für die ökonomisch besser gestellte Mitte der Gesellschaft im besonderen Maße, denn sie hätte immerhin den ökonomischen Spielraum, sich anders zu verhalten. Wo die Zwänge nicht greifen, zeigt sich die gesellschaftliche Mitte ebenso als Pöbel wie der Superreiche.

Aber macht es nicht einen veritablen Unterschied, ob ich 20 Mal mehr besitze als jemand anderes oder 20 Millionen Mal so viel, wie das bei Superreichen der Fall ist?
Das ist ein rein quantitativer Unterschied. Das Prinzip bleibt dasselbe. Es ist dieselbe Art von Rücksichtslosigkeit. Der Unterschied ist nur, dass bei mir noch bestimmte Zwänge greifen, die mir eine Art Maulkorb an- oder eine gewissen Verkehrsmoral auferlegen, zu der ein Superreicher sich freiwillig entschließen müsste.

„Wir arbeiten alle für dasselbe System“

Was werfen Sie der Mittelklasse konkret vor?
Sie weist eine gewisse Findigkeit auf, ihre eigenen ökonomischen Privilegien zu verschleiern und ihre eigene Pöbelhaftigkeit auf globaler Ebene zu vertuschen, indem sie für die negativen Auswirkungen unseres Wirtschaftssystems lediglich eine kleine Gruppe verantwortlich macht. Tatsächlich aber profitiert das Besitz- und Bildungsbürgertum in sehr hohem Maße von unserem Wirtschaftssystem, deswegen will es das aufrechterhalten. Es ist ja nicht so, dass das System nur einem Warren Buffett nutzt. An ihm hängen tausend andere Menschen, die ebenfalls profitieren: Banker, Rechtsanwälte, Ingenieure et cetera.

Nur hat Warren Buffett mehr Entscheidungsmacht als sein Rechtsanwalt und kann deutlich mehr in der Welt bewegen.
Es ist ja nicht so, dass eine Handvoll skrupelloser Wölfe der Wall Street sich falsch verhält, und alles in Ordnung kommt, wenn wir sie nur zur Rechenschaft ziehen. Wir arbeiten alle für dasselbe System. An den Superreichen wird nur ein Grundproblem unseres Wirtschaftssystems deutlich: Geld fließt dahin, wo es sich vermehren kann. Das führt dazu, dass Reiche immer reicher werden und der Teil der Armen, die unter prekären Bedingungen leben, ebenso größer wird. Das Bildungsbürgertum profitiert auch von dieser Disposition der Gesellschaft.

Mit dem Unterschied, dass große Teile des Bürgertums für ihr Geld arbeiten, während die Superreichen in der Regel ihr Geld arbeiten lassen können.
Arbeit ist tatsächlich ein zentrales Unterscheidungsmerkmal, weil Reichtum zunehmend durch Kapitalrenditen entsteht und Spekulanten sich der gesellschaftlichen Arbeitsteilung entziehen. Sie produzieren nicht für den Genuss anderer. Reichtum entsteht aber auch dadurch, dass Menschen für ihre Arbeit besonders gut bezahlt werden. Dabei hängt die Bezahlung weniger davon ab, was jemand leistet, als davon, auf welcher Position er sich befindet. Spitzenmanager wie Hans-Olaf Henkel schreiben deswegen in ihrer Biographie in erster Linie nicht, was sie geleistet haben, sondern dass sie Vizepräsident bei IBM waren. Die Position ist der Mann selbst. Das Bürgertum verteidigt deshalb seinen Zugang zu den Positionen, die besser bezahlt werden. Trotzdem verbreitet es mit großer Emsigkeit die Legende von der gerechten Bezahlung.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass sich der reiche Pöbel mit dem armen Pöbel gegen das Bildungsbürgertum verbündet. Was meinen Sie damit?
Der arme Pöbel ist der Ausschuss der bürgerlichen Gesellschaft, der sich darüber empört, nicht mehr mitzuzählen, sei es ökonomisch oder kulturell, oder Angst hat, dass er bald nicht mehr mitzählen könnte. Und dessen Empörung zu einer feindlichen Gesinnung gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft führt. Die Zunahme dieses Pöbels beschert den rechtspopulistischen Parteien enormen Zulauf. Gleichzeitig sehen wir, dass die Politik der Rechtspopulisten keineswegs sozial ist. Sie gibt dem armen Pöbel keine neuen Perspektiven oder Hoffnungen. Mit Blick auf die Steuergesetzgebung sehen wir bei US-Präsident Donald Trump zum Beispiel einen deutlichen Fokus darauf, Spitzeneinkünfte und große Vermögen zu entlasten. Das läuft gegen die Interessen eines Großteils der Wähler populistischer Parteien, ist aber im Sinne des reichen Pöbels.

Warum sympathisiert der arme Pöbel trotzdem mit den Rechten?
Ich glaube, hier zeigt sich eine Feindseligkeit gegenüber dem Lebensstil und der Kultur der bürgerlichen Mitte, ihrer Selbstverlogenheit, Heuchelei und ihrem kulturellem und moralischen Überlegenheitsgehabe. Einen Teil dieser Selbstverlogenheit und Heuchelei aufzudecken, die sich auch in der Kritik an den Reichen zeigt, ist Anliegen meines Buches.

Aber sind es nicht in erster Linie Rassisten, die Rechtspopulisten wählen?
Rassistisch waren viele dieser Menschen vielleicht schon immer – sie haben es nur lange nicht offen gezeigt. Die Frage ist, warum dieser Rassismus gerade jetzt wieder hoffähig wird. Ich denke, es liegt daran, dass der Rassismus sich mit anderen Ressentiments verbindet. Da ist zum einen die Angst vor dem eigenen Abstieg und dem Bedeutungsverlust und zum anderen die Selbstverliebtheit des Bürgertums. Dessen Kultur des Individuellen und Besonderen schließt jeden aus, der keinen Job hat, in dem er sich vermeintlich selbst verwirklichen kann oder der nicht das Besondere konsumiert. Damit befeuert das Bürgertum das Ressentiment des armen Pöbels – und gefährdet letztlich seine eigene Daseinsgrundlage.

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