Digitale Verwaltung Taugt Estland als Vorbild für andere Staaten?

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Eine Art Heimat für Digitalnomaden

Jubel und Applaus brechen aus, als beim World Business Dialogue, einem Wirtschaftskongress an der Uni Köln, der nächste Gast angekündigt wird. „Selbst US-Präsident Barack Obama kam bei ihm vorbei, um zu lernen“, leitet der Moderator ein. Die Bühne betritt: Taavi Rõivas, 38, markantes Gesicht, braune Augen. Er war bis 2016 estnischer Premierminister und einer der Initiatoren des e-Residency-Programms. Als Experte soll er jetzt erklären, wie es gelingt, innerhalb von nur zwei Jahrzehnten die Kultur eines ganzen Landes zu verändern: vom ehemaligen Sowjetstaat zum Digitalpionier. „Die Länder, die neue Technologien besonders früh adaptieren, werden sich am schnellsten entwickeln“, prophezeit der Expremier. Das überwiegend junge Publikum klatscht. Rõivas’ Traum: dass andere Staaten, am besten die gesamte EU, das estnische Modell kopieren.

Der Staat im Baltikum mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern ist, was die Größe seiner Bevölkerung anbelangt, in etwa vergleichbar mit der Stadt München – und ungeheuer ehrgeizig. Als erstes Volk weltweit durften die Esten 2007 bei den nationalen Parlamentswahlen ihre Stimmen online abgeben. Jeder Bürger verfügt über einen elektronischen Ausweis, der zugleich als Führerschein, Bahnticket und Versicherungskarte fungiert. In estnischen Schulen ist Programmieren bereits zum Pflichtfach erhoben worden. Das Image der digitalen Vorreiter Europas tragen die Esten mit Stolz. So ist es nur konsequent, dass nun auch Menschen hier ihren Wohnsitz haben, deren einzige Verbindung zu Estland eine Chipkarte ist.

Ein steueroptimiertes Leben

Allein mit Steuerhinterziehern wollen die Esten nichts zu tun haben; das Land unterhält deshalb ein Doppelbesteuerungsabkommen mit Deutschland, die Behörden tauschen untereinander Informationen aus. Steuerlich attraktiv ist der Standort an der Ostsee dennoch. Solange die Gewinne in der Firma bleiben, fällt für estnische Unternehmen beispielsweise keine Körperschaftsteuer an. Ausgezahlte Dividenden besteuert der Staat zudem nur mit 20 Prozent, weniger als in anderen EU-Staaten. Hinzu kommen 33 Prozent Sozialabgaben, falls diese nicht bereits in einem anderen EU-Land gezahlt werden. Es ist allerdings möglich, sich einen Großteil des Gehalts als Angestellter des eigenen Unternehmens auszuzahlen. Hierauf fallen keine Steuern oder Sozialabgaben an.

Auch Michelle Retzlaff versucht ihr Leben unter steuerlichen Aspekten, soweit es auf legalem Wege möglich ist, zu optimieren. Sie hat sich in Deutschland abgemeldet und ihren Wohnsitz nach Lissabon verlegt. Einkommensteuer muss sie zwar im Prinzip am offiziellen Wohnort zahlen – also dort, wo sie sich mehr als 183 Tage im Jahr aufhält. In Portugal gibt es jedoch für Ausländer die Möglichkeit, in den Genuss eines steuerlichen Sonderstatus zu kommen: Wer sein Einkommen im Ausland erzielt, kann unter bestimmten Voraussetzungen für bis zu zehn Jahre im Land leben, ohne dort Einkommensteuer zahlen zu müssen. Sollte Retzlaff diesen Sonderstatus erhalten, würde sich ihre Abgabenlast auf die estnische Unternehmenssteuer und die Sozialabgaben beschränken.

Neben den Digitalnomaden nutzen vor allem Gründer kleinerer Unternehmen die virtuelle Staatsangehörigkeit. Darunter sind seit Juni 2016 auffallend viele britische Firmen: Sie wollen auch nach dem Brexit ihren Unternehmenssitz in der EU behalten und weiterhin von den Vorteilen des Binnenmarkts profitieren. Für die estnische Regierung lohnt sich das Programm inzwischen auch finanziell. Eine Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte hat berechnet, dass die virtuellen Zuwanderer dem Staat bislang 14,4 Millionen Euro netto eingebracht haben. Mittelfristig, so die Studie, dürfte Estland für jeden Euro, den es in das Programm investiert hat, 100 Euro zurückbekommen. Was dafür anderswo an Steuereinnahmen wegfällt, ergibt sich aus der Studie nicht. Dabei ist es genau dieser Punkt, der inzwischen für einige Diskussion sorgt.

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