Digitale Verwaltung Taugt Estland als Vorbild für andere Staaten?

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Plötzlich ist das Konto gesperrt

Florian Hartleb, ein in Tallinn lebender Politikwissenschaftler, erforscht das estnische Digitalisierungsmodell bereits seit einigen Jahren. Er sagt: „In Deutschland wäre ein solches Programm schwer vorstellbar.“ Schon die föderale Struktur stelle eine hohe Hürde dar. Dennoch empfiehlt er dringend, nach Estland zu blicken: „Wir sollten uns anschauen: Was können wir auch bei uns vereinfachen und pragmatischer regeln, damit hoch qualifizierte, kreative Gründer nicht abwandern?“

Aber Hartleb sieht auch die Risiken im Konzept der virtuellen Identität. Er beschreibt ein „Worst-Case-Szenario“, in dem die Lebensentwürfe von Michelle Retzlaff zur Regel geworden sind – in dem sich Menschen nach dem individuellen Kosten-Nutzen-Prinzip das Beste der Welt herauspicken, in dem sie Wohnort, Staatsbürgerschaft und Identität wie in einem Onlineshop nach Belieben kombinieren, je nachdem wo es die besten Steuervorteile gibt. „Dann fehlt eine emotionale Bindung zum Staat, die für politische Partizipation wichtig ist“, gibt Hartleb zu bedenken.

Auch in Estland wächst die Skepsis. Einige Banken weigern sich inzwischen, Konten für ausländische Unternehmer zu eröffnen. Deren Überwachung sei zu aufwendig, das Risiko zu hoch. Manche Institute haben vorsorglich bestehende Konten von Ausländern geschlossen. Ausgelöst wurde die erhöhte Vorsicht vom jüngsten Bankenskandal im Baltikum. Im benachbarten Lettland musste im Februar die ABLV-Bank dichtmachen. Die drittgrößte Bank des Landes soll für Briefkastenfirmen ausländischer Kunden – hauptsächlich aus Russland – Geldwäsche organisiert haben. US-Behörden werfen der ABLV außerdem vor, ihren Kunden trotz der UN-Sanktionen Geschäfte mit Nordkorea ermöglicht zu haben. Ende März entzog die Europäische Zentralbank dann auch der kleineren estnischen Versobank die Lizenz und ordnete ihre Abwicklung an. Auch sie wird der Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung verdächtigt.

Solche Meldungen sorgen so langsam auch bei den virtuellen Esten für einige Unruhe. In einer Facebook-Gruppe teilen sie miteinander, was ihnen widerfahren ist: Wie ihr Bankkonto plötzlich ohne Vorwarnung geschlossen oder ihnen die Eröffnung eines Kontos gar nicht erst erlaubt wurde. „Was hat meine kleine Firma mit Geldwäsche zu tun? Sie ist komplett sauber!“, beschwert sich einer. Die estnischen Organisatoren beschwichtigen. „Wir stehen in ständiger Diskussion mit den Banken, Aufsichtsbehörden und politischen Entscheidern“, schreibt Kaspar Korjus, Leiter des e-Residency-Programms, in einem Statement.

Softwareentwicklerin Retzlaff ist von solchen Maßnahmen ihrer estnischen Bank bislang verschont geblieben. Überhaupt vertraut sie darauf, dass sich die estnische Regierung für die Belange der Digitalbürger einsetzen wird. Selbst wählen und so die politische Zukunft des Landes beeinflussen kann sie als virtuelle Einwohnerin nicht. Das wolle sie auch gar nicht, erzählt sie: Sie definiere sich lieber als Weltbürgerin denn als Estin. Der Gedanke daran, dass ihre estnische Bank ihr irgendwann kündigen könnte, bereitet ihr keinerlei Kopfzerbrechen: „Echte“ Banken seien im hochdigitalisierten Estland vielleicht ohnehin nicht mehr zeitgemäß. Retzlaff jedenfalls, so sagt sie, würde im Zweifel auf die Dienste eines Fintechanbieters ausweichen.

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