Als Michelle Retzlaff im Frühjahr 2017 die estnische Botschaft in Berlin verlässt, hält sie eine kleine, blaue Box in den Händen. Darin stecken die Insignien ihrer virtuellen Identität: eine blau-weiße Chipkarte, ausgestellt auf ihren Namen, eine Liste mit PIN-Nummern, ein USB-Kartenlesegerät. Retzlaff war nie in Estland. Sie spricht kein Wort Estnisch. Aber nun hat sie neben ihrer deutschen Staatsbürgerschaft noch eine weitere, digitale estnische Identität.
Ein Jahr später sitzt Retzlaff in einem lichtdurchfluteten Co-Working-Space in Lissabon. Sie loggt sich in das estnische Unternehmensportal LeapIn ein, über das sie ihr Unternehmen gegründet hat und wo sie nun alle ihre Zahlungsvorgänge organisieren und abwickeln kann. Die Programmiererin, 26 Jahre alt, betreibt von hier aus eine Softwarefirma mit Sitz in Estland. Inhaberin und einzige Angestellte: sie selbst. Vormittags besucht sie die Sprachschule, um Portugiesisch zu lernen. Nachmittags schreibt sie zum Beispiel Software für einen Betreiber privater Internate in Deutschland.
Retzlaff ist einer von inzwischen 35 000 Menschen weltweit, die in Estland einen virtuellen Wohnsitz angemeldet haben. Das Land hat seine Behörden und Institutionen konsequent digitalisiert – und sich vor drei Jahren entschlossen, auch die nationale Netzgrenze zu öffnen. Die Idee: Nicht nur Esten sollen von den digitalen Dienstleistungen des Landes profitieren, sondern auch sogenannte „e-Residents“, die ortsunabhängig leben und arbeiten wollen – Kleinunternehmer und Digitalnomaden. 5000 solcher Internetbürger haben bereits ein Unternehmen im estnischen Handelsregister eingetragen.
Internationale Nachahmer
Ein Erfolg, der international Wellen schlägt. Führende Politiker in Japan und Singapur haben sich dafür ausgesprochen, das Programm ebenfalls einzuführen. Steht die heimatlose Digitalarbeiterin Retzlaff für eine neue Art, wie sich Menschen in einer vernetzten und virtuellen Welt an einen Staat binden werden? Reicht in einer Zeit, in der Kontakte in virtuellen Spielewelten geknüpft und Freundschaften bei Facebook gepflegt werden, eine blaue Chipkarte, um sich einem Land zugehörig zu fühlen? Wie steht es um die Pflichten, die an eine Staatsangehörigkeit geknüpft sind – vor allem um die Steuerzahlerpflichten? Und welche Identität hat ein Mensch, der deutsch spricht, in Portugal lebt und in Estland Steuern zahlt?
Michelle Retzlaff ist keine Staatsbürgerin Estlands mit all den daran geknüpften Rechten. Bei genauerem Blick entpuppt sich die virtuelle Einbürgerungsoffensive als eine Standortförderung für digitale Nomaden. Retzlaff war erst ein Mal in Tallinn, der Hauptstadt, um ein Bankkonto zu eröffnen – der einzige Schritt auf dem Weg zum e-Resident, für den noch eine Reise ins Baltikum erforderlich ist. Nach der Onlineanmeldung und nach Überweisung von 100 Euro Gebühr hat sich Retzlaff in der estnischen Botschaft in Berlin Fingerabdrücke abnehmen lassen. Anschließend gründete sie online ihr estnisches Unternehmen, die „Freigeist Software OÜ“. Eine OÜ (osaühing) ist vergleichbar mit einer deutschen GmbH. Allerdings müssen Gründer statt der in Deutschland üblichen 25 000 Euro nur 2500 Euro Mindeststammkapital mitbringen.
Und viel weniger Geduld. Wie viel Aufwand ihre Anmeldung in Deutschland verursacht hätte, erfuhr Retzlaff wenig später. Ihre Eltern gründeten zur gleichen Zeit eine GmbH in Deutschland. Allein für die Gründungserklärung beim Notar waren 1000 Euro fällig. Und bis die Firma im Handelsregister eingetragen war, dauerte es mehrere Wochen. Ihre eigene, estnische Firma dagegen war innerhalb von ein paar Tagen startklar: schnell, einfach, günstig. Retzlaff kündigte Job und Wohnung in Berlin und jettete eine Zeit lang um die Welt: Außer ihrem Laptop und einer schnellen Internetverbindung braucht sie nichts für ihre Arbeit. Vielleicht nur noch die estnische Agentur, die ihr bei der Buchhaltung und richtigen Versteuerung ihrer Gewinne hilft. Für 79 Euro im Monat.