Etikette „Die Digital-Ära ist verliebt ins Vorläufige“

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Schlechte Manieren sind kein Unterschichtenphänomen

Schlechte Manieren sind also kein Unterschichtenphänomen.
Ich tue mich schon mit dem Wort „Unterschichtenphänomen“ schwer. Schlechte Manieren kommen in allen Teilen der Gesellschaft vor. Sie sind ein Durchschnittsphänomen.

Ist Deutschland womöglich europäischer Spitzenreiter in Richtung Ungezwungenheit?
Hier gibt es kein Ranking. Auf welcher Grundlage wäre ein solches auch möglich? Den Trend zur Informalisierung können Sie gewiss auch in anderen Ländern beobachten. Allerdings scheint mir der Grad der Verunsicherung in Deutschland höher zu sein als in anderen westeuropäischen Staaten. Leicht ironisch könnte man im Hinblick auf die Manieren geradezu von einem „kleinen deutschen Sonderweg“ sprechen.

Worauf führen Sie den zurück?
Womöglich hängt diese Entwicklung mit den tief greifenden politischen, sozialen und kulturellen Umbrüchen zusammen, die die jüngere deutsche Geschichte prägen. Von der Reichsgründung 1870/71 über die Weimarer Republik und das Dritte Reich bis zur deutschen Teilung und Wiedervereinigung. Angesichts dieser Zäsuren konnten sich verhaltensprägende Traditionen in Deutschland nur schwer herausbilden, jedenfalls schwerer als in anderen Ländern, etwa Frankreich und England.

Da würde sich Knigge im Grabe umdrehen
SchulmeisterereiOberlehrerhaftes Verhalten scheint typisch deutsch zu sein. Wachsender Trend: Deutsche schulmeistern gerne ihre Mitmenschen. „Sie sind ein schlechtes Vorbild für mein Kind, wenn Sie bei Rot über die Ampel gehen“ „Hier ist Ballspielen verboten“ „Hier raucht man nicht“: Schulmeistern hat nichts mit gutem Verhalten zu tun. Die Deutsche Kniggegesellschaft urteilt sogar: „Wir entwickeln uns zu einem Volk von Zurechtweisern. Das muss besser werden.“ Quelle: V.V.V.-Verlag
Sitz mit Aktentasche blockierenNerv-Trend Nummer zwei speziell bei Geschäftsreisenden: ein einziges Ticket kaufen und den Nebenplatz dennoch mit der Aktentasche blockieren. Andere Fahrgäste müssen stehen, das Gepäck hat´s bequem. Sehr effektiv, um von Hamburg bis Frankfurt ungestört zu sein, sozial aber nicht kompatibel, findet die deutsche Kniggegesellschaft. Quelle: dpa
Zu viele Löcher, labberige Hemden, kurze Ärmel mit KrawatteDer Businessmann macht laut der Kniggegesellschaft noch viel falsch. Darum: Perfekte Gürtel haben nur fünf Löcher, das Hemd muss zwei Zentimeter aus dem Ärmel schauen und kurze Arme mit Krawatte sind ein No Go. Damit sich diese Fashion-Fauxpas nicht wiederholen, raten die Benimm-Experten, auch als Mann mal hin und wieder einen Blick in eine Modezeitschrift zu werfen. Quelle: dpa
Lautstark in der Öffentlichkeit telefonierenEbenfalls auf der Kniggeliste steht der Handybrüller, vorzugsweise in Bus und Bahn. Den ganzen Waggon zu beschallen, ist schon ein Klassiker und bleibt dadurch weit oben auf der Liste der Benimm-Fehler der Deutschen. Dass leise und weniger und höflicher ist, ist immer noch nicht bei allen angekommen: Rechtsanwälte etwa posaunen immer noch die Namen und Aktenzeichen ihrer Mandaten durch den Zug (Gab´s da nicht eine Schweigepflicht?), andere lassen Mitreisende lautstark Anteil an Familien- und Beziehungsproblemen nehmen. Übrigens: Man kann auch leise in seinen Laptop hacken. Das muss nicht wie die alte Schreibmaschine MG klingen. Quelle: dpa
Vor dem Abbiegen nicht blinkenBlinken ist uncool, ist schon klar. Das machen nur Spießer. Der Selfmade-Man biegt ohne ab. Davon gibt es immer mehr, geißelt die Kniggegesellschaft. Da weiß man dann gar nicht, was der andere will und schon kracht es. Das ist extrem unsolidarisch. Also: Blink mal wieder! Quelle: dapd
Besteck falsch haltenJeder Zweite kann's nicht richtig, dabei ist es nicht schwer, Messer und Gabel richtig zu halten. Ein Messer ist kein Bleistift, also kein Grund, es wie einen Griffel zu halten. 50 Prozent der von der Knigge-Gesellschaft getesteten Besucher von Biergärten machten Besteckfehler beim Essen. Ein Vorsatz: Dringend Tischsitten updaten. In der Muße liegt der Genuss, dann klappt´s auch mit dem Knigge. Quelle: dpa
Daneben-Benehmen auf BetriebsfeiernAlle Jahre wieder immer dieselben Fehler. Vorsicht mit dem Alkohol, nicht Sexy-Hexy spielen und kein Geknutsche mit dem Chef. Das Betriebsfest ist nach wie vor vermintes Gelände. Hier enden immer wieder Karrieren. Überlebenstipp: Klappe halten, nichts ausplaudern und nicht am nächsten Tag krankfeiern. Quelle: dpa

Die Deutschen sind auch in Sachen Manieren eine verunsicherte Nation?
So würde ich es nicht ausdrücken. Es geht vielmehr darum, dass uns die Regeln des Umgangs, die Rituale und Symbole menschlichen Benehmens oft gar nicht mehr präsent sind. Wobei es mir nicht um die Regeln um ihrer selbst willen geht. Vielmehr möchte ich für die Vielschichtigkeit sozialer Normen sensibilisieren, damit jeder einen zu ihm passenden Weg findet.

Was können unsere Nachbarn denn besser?
Bei ihnen gibt es teilweise homogenere Verhaltenskodizes, wobei pauschale Vergleiche natürlich immer schwierig sind. Wenn Sie aber die Opernhäuser anderer europäischer Metropolen besuchen, werden sie unschwer traditionellere Kleiderordnungen erkennen als etwa in Berlin. Oder vergleichen Sie eine U-Bahn-Fahrt in London mit einer bei uns: Das Verhalten der Fahrgäste ist normierter, auch dank der allgegenwärtigen Schilder, die keinen Zweifel daran lassen, wo man stehen und gehen soll, und dass die Wagen des öffentlichen Nahverkehrs kein zweites Wohn- und Speisezimmer sind.

In Deutschland schminken sich die Menschen inzwischen in der Bahn.
Dass Fingernägel im Zug lackiert werden, dass man sich parfümiert und über die intimsten Dinge in Zimmerlautstärke spricht, dürfte fast jeder schon einmal erlebt haben. Das erinnert mich ein bisschen an die Zeiten des Absolutismus. Nur dass es heute nicht mehr der König ist, der öffentlich Toilette macht, sondern ein beliebiger Fahrgast. Vom viel beschriebenen Rückzug ins Private kann nicht die Rede sein. Das Private wird zunehmend in die Öffentlichkeit getragen. Denken Sie nur ans Essen. Die Berliner Verkehrsbetriebe haben einschlägige U-Bahn-Szenen in einem Video hübsch auf die satirische Spitze getrieben: „Is mir egal.“

Die Wirklichkeit ist weniger lustig. Sind wir rücksichtsloser geworden im Umgang miteinander?
Rücksicht ist so etwas wie die DNA guter Manieren. Gerade im Alltag der Massengesellschaft, also unter Bedingungen der Raumknappheit. Vielen mangelt es am nötigen Raumgefühl. Sie haben keinen Sinn für die Reichweite des eigenen Körpers, für die Distanz zu den Mitmenschen – und rücken einander immer öfter „auf die Pelle“. In der „Rushhour“ wird hemmungslos gerempelt, die Armlehne im Zug wird kaum mehr als Begrenzung wahrgenommen, und dass man besser aufsteht, um den Sitznachbarn vorbeizulassen, anstatt ihn über Beine steigen zu lassen, scheint weithin unbekannt.

Sie sprechen vom „Kampf der Knie“.
Es fehlt uns an dem Bewusstsein für das, was Engländer „Personal space“ nennen. Ein Zauberwort der britischen Manieren, das den physischen Schutzraum der Persönlichkeit bezeichnet, die Würde des respektvollen Abstands. Es ist bezeichnend, dass es dafür keine Entsprechung im Deutschen gibt.

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