Luxus Wie Markus Scheer Schuhe für 5000 Euro verkauft

In Zeiten der kalten Digitalisierung sehnt sich der Mensch nach Edlem und Haltbarem – selbst wenn es 5000 Euro kostet. Wie ein Paar Schuhe bei Markus Scheer.

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Ein Paar Schuhe nach Maß kostet bei Markus Scheer 5000€. Quelle: Patrick Rigaud

Um zu verstehen, wie sich Markus Scheer die Zukunft seines Unternehmens vorstellt, muss man zunächst einmal abwärts mit ihm. Eine steile Treppe führt aus dem Erdgeschoss des Wiener Maßschuhmachers Rudolf Scheer & Söhne hinab in den Keller. Dort, im ehemaligen Kohlebunker der Werkstatt, ist seit Kurzem ein kleines Museum untergebracht. Kühl ist es in dem langen, schmalen Gewölbe, dunkel auch. Erst am Ende des Raumes befindet sich etwas Licht, man erkennt erst von unten angestrahlte Regalbretter und dann auch, darauf gebettet, die Schätze der mehr als 200 Jahre alten Manufaktur: die Schuhleisten der Reichen und Mächtigen. Kaiser Franz Joseph und Kaiser Wilhelm gehörten zu den Kunden von Scheer, König Georg der I. und II., auch der Schriftsteller Franz Kafka und der Maler Jörg Immendorff.

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Markus Scheer führt das Unternehmen in der siebten Generation. Wie schon sein Urgroßvater und Großvater zählt er zu den besten Schuhmachern der Welt. Wer ein Paar kaufen möchte, fährt für bis zu vier Anproben nach Wien, wartet bis zu einem Jahr auf die Anfertigung und bezahlt bei Übergabe rund 5000 Euro. Zumindest beim ersten Paar. Danach wird es etwas günstiger. Und trotzdem kommen Scheers Kunden aus der ganzen Welt zu ihm. Manche seit Generationen.

Um dieses wertvolle Erbe zu bewahren und zu ehren, hat Scheer das Museum eröffnet. Und in der Mitte des Raumes eine lange Tafel platziert. Dort finden mit Blick auf die Leisten der berühmtesten Kunden von einst feine Abendessen für die besten Kunden von heute statt. Um ihnen was Anständiges auftischen zu können, lädt Scheer regelmäßig Sterneköche in seine Manufaktur ein. Diese Festessen sind aber nur ein Teil seines Masterplans, mit dem er das Familienunternehmen für die nächste Generation bereit machen will.

Natürlich bleiben die feinen Schuhe das Herzstück der Manufaktur und der Marke. Doch um das Traditionshandwerk herum baut Scheer weitere Geschäftszweige auf. Er hat ein Buch geschrieben und verkauft im Ladenlokal unter der Manufaktur auch handgemachte Taschen und Gürtel. Dafür hat er extra einen der letzten Täschner Österreichs eingestellt. Reich wird er durch die Diversifizierung seiner Aktivitäten nicht. Doch das ist auch nicht sein Ziel. Scheer geht es vor allem um die Konservierung und Pflege kostbaren Handwerkerwissens.

Besuch beim Wiener Maßschuhmacher Markus Scheer. Quelle: Peter Rigaud

Die Anreisen, das lange Warten und der hohe Preis: All das wirkt aus der Zeit gefallen in einer Überflussgesellschaft, die sich daran gewöhnt hat, alles sofort und günstig zu bekommen. Und sind Schuhe nicht außerdem zu einem leicht vergänglichen Accessoire geworden – zu einem Kleidungsstück, das buchstäblich mit der Mode geht und sich jede Saison neu erfinden muss? Wer kauft sich heute noch ein Paar Schuhe, das ein Leben lang halten soll?

Mehr Menschen, als man denkt. Und so hat sich neben den alteingesessenen Wiener Meistern, Rudolf Scheer und Ludwig Reiter, in den vergangenen Jahren eine neue Generation an Schuhmachern etabliert, die die Tradition des klassischen Handwerks ins 21. Jahrhundert tragen. Kay Gundlack etwa, berühmt für seine rockigen Lederstiefel, die der Popgeiger David Garrett trägt. Oder die Berliner Maßschuhmacherei Hennemann und Braun, gegründet von einer studierten Politikwissenschaftlerin und ehemaligen Topmanagerin, die unkonventionelle Materialien wie Fahrradschläuche oder Lachsleder verwendet. Sie alle profitieren von der Liebe zum Manufactum-Produkt, an dessen Etikett nicht nur ein Preis, sondern auch Nostalgie und Ursprünglichkeit kleben. Man kennt das: Die besondere Haptik eines selbst gemachten Papiers oder die nicht perfekte Oberfläche einer handgetöpferten Vase lösen vor allem in Berlin und Hamburg romantische Gefühle aus. „Das Bedürfnis nach individualisiertem Konsum ist ein allgemeiner Trend“, bestätigt Ina Köhler, die an der Akademie Mode & Design (AMD) in Düsseldorf lehrt. Viele Konsumenten sehnten sich „nach wertstabilen und langlebigen Produkten“, für die sie auch bereit seien, mehr Geld auszugeben. Laut einer Umfrage des Datenportals Statista würden 39 Prozent der Befragten für besonders gute Schuhe einen stattlichen Preis zahlen.

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Gestatten, der Fußarzt

Zu den Sehnsuchtsgründen gesellt sich aber noch ein praktischer: „Der europäische Fuß befindet sich in einem miserablen Zustand“, sagt Markus Scheer. Viele seiner Kunden kommen erst zu ihm, wenn es fast schon zu spät ist. Wenn sie aufgrund des falschen Schuhs unter Rücken- oder Gelenkschmerzen leiden. Bei dieser Diagnose passt es gut, dass Scheer, der stets einen weißen Kittel trägt, neben der klassischen Schuhmacherlehre auch eine orthopädische genossen hat. Weil der Mensch typischerweise weniger zu Fuß unterwegs sei als früher und viel Zeit im Sitzen verbringe, sei ein wenig in Vergessenheit geraten, dass der richtige Schuh auch eine wichtige Haltungsfrage sei.

Wie früher: Bei Rudolf Scheer & Söhne gibt es nur ein technisches Hilfswerk: eine mehr als 100 Jahre alte Singer-Nähmaschine. Der Rest wird von Hand und ausschließlich in der Wiener Werkstatt gefertigt. Quelle: Peter Rigaud

Bei der Herstellung seiner Modelle setzt Scheer vor allem auf zwei Faktoren: Handwerk und Zeit. Das beginnt schon mit dem ersten Gespräch. Manchmal dauert es nur 20 Minuten, manchmal aber auch zwei Stunden. Immer findet es im ersten Stock seines Ladens statt – egal, ob es sich beim Kunden um ein gekröntes Haupt handelt oder um Herrn Maier aus Mülheim. Hausbesuche macht Scheer nicht. „Diese Zeit würde mir sonst beim Ausbilden meiner Mitarbeiter fehlen“, sagt er.

Nachdem der Kunde auf einem roten Samtsessel Platz genommen hat, beginnt der knifflige Teil. Denn Scheer ist zwar gekleidet wie ein Arzt und kennt sich aus wie ein Arzt, darf aber auf keinen Fall so wirken wie einer. Der Kauf eines 5000-Euro-Schuhs soll schließlich Spaß machen. Das heißt auch: keine intimen Fragen oder unangenehmen Diagnosen. Nah kommt er seinen Kunden trotzdem. Scheer muss den Fuß in der Hand halten, seine Bedürfnisse und Besonderheiten ertasten. Dabei beobachtet er viel: Wie steht der Kunde, wie läuft er, wie hält er sich? Und dabei plaudert er viel: Reist der Kunde häufig? In welchen Klimazonen hält er sich auf? Wie viel Halt braucht der Fuß?

Das Geschäft Rudolf Scheer & Söhne an der Bräunerstraße 4 in Wien. Quelle: Peter Rigaud

Natürlich wird auch das Design besprochen. Im ehemaligen Schlafzimmer der Großmutter befindet sich das Lederlager. Um die 10.000 verschiedene Sorten gibt es, darunter klassische Materialien wie braunes Kalb, aber auch exotische wie türkisfarbenes Eidechsenleder. Scheer arbeitet mit Gerbern in Italien zusammen. Die Kunden müssen sich an dem orientieren, was gerade da ist. Ausnahmen gibt es im Einzelfall. Zum Beispiel, wenn ein japanischer Stammkunde von einem Paar aus Kauleder träumt. Das heißt so, weil die Gerber während der Herstellung immer mal wieder auf dem Leder kauen, um zu testen, ob es schon die richtige Konsistenz hat.

Nach dem ersten Gespräch folgt das Schnitzen der Leisten, natürlich per Hand, ausschließlich vom Chef. Erst danach wandern die Schuhe weiter in die Werkstatt, in die Obhut seines Teams. 20 Mitarbeiter beschäftigt Scheer aktuell, inklusive eines Manns fürs Marketing und Rosi, der Köchin.

Vom Studienabbrecher zum Schuhmacher

An diesem heißen Septembertag findet sich aber nur ein halbes Dutzend von ihnen in der Werkstatt, an der sich über die vergangenen Jahrzehnte nicht viel geändert hat. In der einen Ecke poliert eine junge Frau, gebeugt über einen niedrigen Holztisch, einen fertigen Schuh. In der anderen arbeitet ein tätowierter Hipster gerade an der Herstellung der Sohle. Viele von Scheers Mitarbeitern fanden erst spät zu ihrer Profession, studierten zunächst Architektur oder Soziologie, bevor sie mit ihrer Ausbildung begannen. Ob einer von ihnen den Laden übernehmen wird? Möglich. Aber auch Scheers 16-jährige Tochter zeigt Interesse. Aktuell geht sie noch in England zur Schule, nach ihrem Abschluss im kommenden Jahr will sie im Betrieb mithelfen. „Je älter ich werde, desto schöner finde ich den Gedanken, dass eines meiner fünf Kinder mal übernimmt“, sagt Scheer.

Der beste Massschuh der Welt. Quelle: Peter Rigaud

Um sich aber nicht von seinen Gefühlen leiten zu lassen, hat Scheer einen Beirat ins Leben gerufen. Dieser Kreis von sechs Leuten, zu dem unter anderem sein Steuerberater und Stammkunden gehören, beobachtet seine Kinder, Nichten und Neffen und Mitarbeiter, um zu einer Entscheidung im Sinne des Geschäfts beizutragen.

Bevor seine Kunden ein zweites Mal in die Bräunerstraße reisen, fertigen Scheer und sein Team einen Probeschuh an. Der kommt dem späteren Modell schon recht nahe, wird aber aus weniger hochwertigem Leder gefertigt. Anhand dessen wird die Passform bei der Anprobe perfektioniert, außerdem können jetzt noch Designänderungen vorgenommen werden. Es folgt die Herstellung des eigentlichen Schuhs. Dafür sind mehr als 60 Arbeitsstunden nötig. Nach rund drei Monaten reist der Kunde erneut nach Wien, zur finalen Anprobe. Handelt es sich um den ersten Maßschuh, wird eventuell noch ein vierter Termin vereinbart. Denn dass der Schuh sofort „wie angegossen“ passt, ist ein Irrtum. Auch die beste Maßanfertigung sitzt nicht immer sofort. Wohl aber zum guten Ende. Dann soll das Gehen im Scheer-Schuh fast so schön sein wie das Barfußlaufen.

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