Elis hat einen Ruf. Der alten Dame, die vor einigen Jahren mit über 90 Jahren verstorben ist, gehörte nördlich von Bockenheim in der Pfalz ein Weinberg. Offiziell ohne Lagenbezeichnung, ein weiterer Fleck zwischen den zahlreichen Rebflächen in Deutschlands zweitgrößtem Anbaugebiet, hatte er im Weingut Brand seit Generationen seinen Spitznamen. „Un Bub, warschd widder bei de Elis?!“, fragte der Großvater Jonas Brand.
Inzwischen heißt Brands Vorzeigewein „Elis“, und das Etikett zeigt ein ältere Dame. Der Wein ist so produziert, wie er wohl zu den Zeiten von Elis Geburt vinifiziert worden wäre. Er gehört zu der Gruppe von Weinen, die ein Genre darstellen, ohne dass es so recht Konsens ist, was genau sie eigentlich ausmacht: Naturwein.
Bei Brands Elis, den er zusammen mit seinem Bruder vinifziert hat, beginnt die Geschichte im Weinberg. Es sind mehr als 70 Jahre alte Reben, die Brands Vater roden lassen wollte. Jonas kam zurück ins elterliche Weingut, voller Eindrücke namhafter österreichischer Weingüter, die „die ganze Bandbreite an Vinifikation beherrschten“, wie Brand sagt. Der junge Jonas, 2014 gerade 20 Jahre alt, überzeugte seinen Vater, die Reben stehen zu lassen, pflegte die Stöcke gewissenhaft, erntete seinen ersten Jahrgang, brachte die Trauben in den Keller, presste sie und tat: Nichts.
Was ist was?
Drei Begriffe für die gleiche Idee: Wein, der mit möglichst wenig Eingriffen im Weinkeller vinifiziert wird. Es gibt keine gesetzlichen Vorgaben. Die Definition ist mithin schwierig. So gibt es Naturwein-Winzer, die zum Schluss Schwefel zugeben, was andere Winzer ablehnen. Aufgrund ihres Herstellungsverfahrens und dem Verzicht, Weinfehler mit Hilfe von Wirkstoffen auszumerzen, können die Weine wild und kräuterig schmecken. Viele Naturweinwinzer legen extremen Wert auf solide Arbeit im Weinberg und penible Verarbeitung - heraus kommen oft Weine, die auf Anhieb zwar andersartig wirken aber keinerlei Fehlnoten aufweisen.
Die Bezeichnung Orange-Wein führte zu Beginn der Entstehung der Naturweinszene zu vielen Verwirrungen. Orange-Weine können Naturweine sein, müssen es aber nicht. Orange bezieht sich auf die Farbe des Weines, der aus Weißweintrauben produziert wird. Der Unterschied zu konventionellen Weinen ist, dass die Orange-Weine auf der Maische vergoren werden für einen langen Zeitraum. Die Maische ist die Masse der gepressten Trauben, gegebenenfalls auch mit Stielen. So wird auch Rotwein produziert. Ob der Wein anschließend mit Hilfsmitteln gekeltert wird, ist je nach Produzent unterschiedlich.
Biowein darf so genannt werden, wenn er nach den Richtlinien der EU zur Produktion von Bio-Produkten erzeugt wurde. Diese ist - ähnlich wie bei Gemüse - weniger restriktiv als die von Verbänden wie Demeter.
Biodynamischer Anbau geht zurück auf die Lehre von Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie. Sämtliche Weingüter, die dem Demeter-Verbund angehören, wenden diese Methoden an. In Deutschland setzen jedoch auch zahlreiche hochrangige Weingüter auf den biodynamischen Anbau, ohne Mitglied bei Demeter zu sein. Verfahren wie das Vergraben von Kuhhörnern wirken eigentümlich. Aber auch Weingüter wie das italienische Alois Lageder tun es. In Deutschland arbeiten Weingüter wie Wittmann in Rheinhessen oder auch das Weingut des VDP-Vorsitzenden Steffen Christmann biodynamisch. In Frankreich zählen zu den Biodynamikern Weingüter wie Pontet-Canet in Bordeaux - eines der bekanntesten der Region.
Das drollige Kürzel steht für Pétillant Naturel und müsste korrekt also PétNat heißen. Pétillant sind die Bläschen, die auf natürliche Weise entstehen. Bei der alkoholischen Gärung entsteht Kohlensäure - wer je eine Flasche Federweißer fest verschlossen hat, kann damit unangenehme Erfahrungen gemacht haben. Winzer, die ein PétNat erzeugen wollen, füllen den noch gärenden Most in eine Flasche, die dem Druck standhält. Während der Wein zu Ende gärt, entstehen die Bläschen.
Gespräche und Geschichten über Naturwein, so schreibt der Weinpublizist Stuart Pigott in einem Aufsatz für die diesjährige Messe ProWein in Düsseldorf, müssten immer mit einer Definition beginnen. Es gibt Bio-Wein, Wein aus biodynamischen Anbau, Orange-Weine, Vin Naturel – und für manchen Genießer ist das alles irgendwie Naturwein. Wein, der nach biodynamischen Prinzipien hergestellt wird, kann, muss aber kein Naturwein sein. Naturwein ist wiederum nicht automatisch biozertifiziert. Und trotz seiner diffusen in keiner Form gesetzlich festgelegten Definition ist er für viele Konsumenten ein Bekenntnis zu einem besseren Leben. Er verkörpert die Suche nach den Wurzeln eines Genussmittels, das mystisch behaftet ist, Geschichten trägt und fortführt, das Luxus und Alltag sein kann – Wein.
Historisch ist der Begriff Naturwein schon vom Verband der Prädikatsweingüter (VDP) verwendet worden, der 1910 als Verband Deutscher Naturwein-Versteigerer gegründet wurde. Später wurde die Verwendung untersagt. Denn mit Natur ist heute im Weinbau nicht zwingend technikarm gemeint. Die Winery der kalifornischen Marke Gallo ähnelt mit ihrer Armada an Stahltanks im Freien äußerlich einer Chemiefabrik: Glyphosat im Weinberg gegen Unkraut, Schönungsmittel, temperaturkontrollierte Gärung. Diese wird ausgelöst durch Reinzuchthefen mit Namen wie X-thiol, die Unternehmen wie Erbslöh im Programm haben und dem Winzer die erwünschte Geschmacksrichtung ermöglichen. Das Ergebnis sind heutzutage fehlerfreie Weine, die zielsicher auf den vorherrschenden Kundengeschmack hin bereitet werden können. Im Datenblatt zu Erbslöhs jüngster Hefe steht: „eignet sich hervorragend zur Steigerung des reifen exotischen Ausdruckes von Roséweinen.“
Die EU erlaubt Winzern ein reichhaltiges Arsenal an Hilfsmitteln, damit der Kunde saubere Weine kaufen kann. Und dem Winzer die Arbeit erleichtert wird. Naturwein heißt eben auch: Fehler vermeiden statt ausmerzen.
Jonas Brand und sein Bruder Daniel beginnen dabei im Weinberg und bei dessen Pflege. Im Keller setzen die Brüder wie alle Naturwinzer auf die Kraft der Natur. Die Hefen, die in der Luft sind, starten wie beim Ansetzen eines Sauerteiges die Gärung. Spontanvergärung ist der leicht irreführende Ausdruck, denn das kann auch mal dauern. Und wie lange die Hefen benötigen, den Zucker in Alkohol zu verwandeln – ungewiss. Mal länger, mal kürzer, auf jeden Fall mit offenem Ergebnis.
Brands erster „Elis“ machte denn auch zu Beginn wenig Freude. „'Kannst weglaufen lassen', sagte mein Vater“, erinnert sich Brand, der die Nerven und den Wein behielt. Unterstützt von Tipps seiner ehemaligen Praktikumsbetriebe ließ Brand den Wein über Monate im Fass, bis sich die anfangs ungewohnten Geruchsnoten, die so genannten Böckser, verflüchtigt hatten. Brands Vater probierte – und war überrascht. Positiv. Er änderte in Folge seine Haltung zu der Art der Produktion und steht heute hinter dem Weg seiner Söhne.
Deswegen ist nun der Silvaner „Elis“ das Flaggschiff im Weingut, das die beiden Söhne ausgegründet haben mit den Flächen aus Familienbesitz. Für 27 Euro die Flasche. Also knapp 10 mal so viel wie der Durchschnittspreis einer Flasche Wein in Deutschland.
Verkauft werden solche Weine unter anderem bei Geschäften wie dem „Origine“ in München-Schwabing. Wer lediglich eine Stunde in dem Geschäft verbringt, kann einige prototypische Verkaufsszenarien beobachten. Erfahrene Kunden, die gezielt nach einer einzelnen Sorte eines bestimmten Weinguts fragen, die es in München nur hier gäbe – und an dem Tag gerade auch nicht. Junge Menschen mit Gutscheinen, die nur wissen, dass sie hier Naturweine bekommen aber auch älterer Ehepaare, die seit Jahren Weinliebhaber sind und nun viel Naturweine kaufen.