Rainer Brämer „Die Ideen kommen beim Wandern wie von allein“

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Landschaften, die Inspiration stiften

Zum Wandercoaching: Wie müssen Landschaften aussehen, die Inspiration stiften?
Durch reine Fichtenforste zu gehen – das kann es nicht sein. Die Wege sollten schon eine gewisse Abwechslung bieten, so dass man immer mal wieder herausgerissen wird aus seinem Trab. Man kann da regelrechte Offenbarungen erleben. Ich war ja lange Zeit Wanderführer. Manchmal konnte man vorhersagen, wie die Leute auf bestimmte Situationen reagieren. Wenn Sie lang genug durch den Wald gelaufen sind und sich dann unerwartet eine Aussicht auftut – dann bleibt Ihnen jede Wandergruppe stehen. Ich habe einmal eine Wanderung geführt, die in die Dunkelheit ging, über einen Gebirgskamm: Plötzlich öffnete sich der Wald und gab nicht nur den Blick frei auf die Höhenzüge des Sauerlands in allen Nuancen von Blau und Schwarz, sondern auch auf ein angeleuchtetes Schloss. Probeweise habe ich dazu noch eine sehr beruhigende, romantisch klingende Barockmusik laufen lassen – da haben sich die Leute eine Viertelstunde lang nicht mehr bewegt, das hat sie doppelt gepackt, sie waren regelrecht gebannt. Die Wirkung von Landschaften ist zu 90 Prozent erstmal eine emotionale.

Bei langen Wanderungen können sich regelrechte Trancezustände einstellen, es wird auch immer wieder gesagt, das Wandern fördere die Kreativität.
Ja, die besten Ideen kommen in der ersten halben Stunde, da fällt einem alles Mögliche ein. Das haben auch meine akademischen Kollegen immer wieder bestätigt: Die Gedanken kommen wie von allein. Erst dann, nach stundenlangem gleichmäßigem Gehen, stellt sich die Trancephase ein, die wunderbar entspannend sein kann. Der Stress fällt von einem ab, man scheint den Körper nicht mehr zu spüren, fühlt sich gelöst, fast abgehoben, wird gewissermaßen eins mit der Landschaft. Der Geist ist dann allerdings eher träge, es wird nicht mehr viel nachgedacht.

Die Sinne sind aber noch ziemlich wach.
Durchaus. Wir öffnen uns beim Wandern ja mit all unseren Sinnen, nicht nur mit den Augen und Ohren. Unser Körper hat ein internes System, das unsere Bewegungen automatisch steuert. Wir achten nicht besonders auf den Weg und fallen trotzdem nicht über den Stein vor uns. Da findet eine wunderbare Harmonisierung der inneren mit der äußeren Natur statt.

Was weiß man sonst noch über die physiologischen Vorgänge beim Wandern?
Der Stoffwechsel wird gestärkt, der Serotonin-Spiegel angehoben, Endorphine kommen nach ausdauerndem Wandern ins Spiel. Ganz wichtig: Dopamine werden freigesetzt, wenn die Entdeckerlust des Wanderers angestachelt wird. Fast könnte man sagen: Dopamin ist das Geheimnis des Mystery-Effekts. Damit meinen die amerikanischen Landschaftspsychologen die Verlockung durch das noch nicht Gesehene. Was erwartet mich hinter der nächsten Biegung? Was ist da los? Davon leben Wanderwege ganz entscheidend: Die Erwartung, immer wieder etwas Neues zu sehen, erzeugt beim Wanderer wiederholt einen Dopamin-Schub. Das haben wir bei der Gestaltung des Rothaarsteigs unterschätzt. Der Spannungs-Effekt, den ein schmaler, gewundener Pfad bietet, ist viel wichtiger als der schönste Kammweg mit ein paar Aussichten.

Ein bisschen Stress darf also doch dabei sein?
Ja, wir schätzen beides. Einerseits die Sicherheit, die ein Weg bietet: Ich will wissen, wo ich bin und wo es lang geht. Deshalb ist eine klare, eindeutige Wegweisung so wichtig. Andererseits der Mystery-Effekt, der unsere Neugier auf das nächste Stück Weg weckt. Die Kombination von beidem macht es.

Sie stellen in Ihren Untersuchungen fest, dass die Wanderquoten der 14- bis 29-Jährigen stärker abnehmen als die der älteren Jahrgänge. Woran liegt das? Ist Wandern für die Jungen nicht spannend genug?
Die Mehrheit fühlt sich offenbar bei den neuen Medien besser aufgehoben. Das zeigen auch Jugendstudien. Womöglich hängt das damit zusammen, dass die digitalen Kunstwelten mit viel dichteren Reizfolgen arbeiten als die spannendste Wanderweg-Dramaturgie es je könnte. Ich bin immer wieder erstaunt, mit wieviel tiefenpsychologischer Raffinesse die Zuschauer der Game-Videos bei der Stange gehalten werden. Da sind großartige Künstler am Werk. Und was den Natursoziologen besonders interessiert: In welchem Maße die Natur als allgegenwärtige Kulisse in diese Medien eindringt, mit den einschlägigen Zutaten, die wir aus der Landschaftspsychologie kennen: Liebliche Wiesentäler, gestaffelte Höhenzüge, sich hoch auftürmende, bedrohliche Felslandschaften, mit einer Burg in der Ferne, dem Symbol der Sicherheit. Alles wie in der romantischen Malerei, nur mit viel schneller wechselnden Szenerien – und einer draufgesetzten Handlung.

Und Sie glauben, das sei eine ernsthafte Konkurrenz für das analoge Wandererlebnis?
Ja, es scheint mir fast so. Der optische Effekt ist faszinierend. Auch für einen alten Wanderer wie mich.

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