Tischkultur Deutschlands Rückkehr zum Besser-Esser

Kaffee im Plastikbecher und gebratene Nudeln aus dem Pappeimer gelten inzwischen als Sünde. Warum viele Menschen wieder Geld für feine Tischkultur ausgeben.

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Tischkultur darf auch gerne rustikal. Quelle: Rosenthal GmbH

Wer im Berliner Kaufhaus des Westens mit der Rolltreppe in den vierten Stock fährt, landet in der Abteilung „Home & Away“. Hier dreht sich alles um die feine Tischkultur, und hier sieht alles ein bisschen anders aus als früher.

Statt üppig gedeckter Tafeln, bestückt mit verschnörkeltem Meissener Porzellan und gestärkten Servietten, statt silbernen Kerzenständern und strahlend weißen Tischdecken setzt man im Luxuskaufhaus auf unkonventionelle Stilmischungen: schlichte bunte Kunststofftabletts der dänischen Minimalistenmarke Hay kontrastieren mit schlicht weißem Porzellan der deutschen Manufaktur Dibbern.

Und die schwarz-weiß-goldenen, fast schon künstlerischen Teller und Kannen der italienischen Marke Fornasetti heben sich von den rustikalen naturfarbenen Leinenservietten des deutschen Textilherstellers Luiz ab.

Auf der Tafel ist heute alles erlaubt; der Diversity-Gedanke schlägt sich auf den Tischen der Nation nieder. Die Kunden heute kaufen nicht teuer, vitrinenedel und aus einem Guss. Sie setzen auf Stilpluralität und Laissez-faire: Rustikal trifft auf fein, gradlinig auf opulent, günstig auf teuer. Optisch erscheint das alles unverbraucht und neu. Doch ästhetisch geht damit auch eine Rückbesinnung auf alte Werte einher: Eine neobürgerliche Tischkultur scheint da auf, die sich natürlich bewusst ist, dass sie hinter die Coolness der liberalen Moderne nicht mehr zurückfallen kann. Wer seine Tafel mit Liebe zum Detail eindeckt, mehr als einen Gang serviert und darauf achtet, dass die richtigen Weingläser auf dem Tisch stehen, der verbindet damit ein Statement.

Er zelebriert, maximal in leicht ironischer Brechung, den Luxus des bewussten Genießens – etwas, für das die Menschen im Coffee-to-go-Zeitalter keinen Sinn entwickeln konnten.

Die Art und Weise, wie die Deutschen essen, hat sich über die vergangenen Jahrzehnte hinweg stark verändert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts passte noch alles hübsch brav zusammen. Das korrekte Aufstellen eines kleinen oder großen Gedecks (Mittagessen – Abendessen in Gesellschaft) war Teil der alltagspraktischen Allgemeinbildung – ein Barbar, wer nicht wusste, wie Teller zu stapeln und Bestecke aufzureihen sind.

Bis in die Fünfzigerjahre baute eine anständige Gastgeberin mehrteilige Sets auf, bestehend aus sorgfältig aufeinander abgestimmten Garnituren. „Die große Tafel halt“, sagt der Berliner Stilexperte Stephan Meyer, der Fotoshootings über Tischkultur ausstattet. Besonders wenn Gäste kamen, wollte der Gastgeber zeigen, was er hat. Es gab ein Gedeck für den Alltag und eines für besondere Anlässe, mit bemaltem Porzellan, Silberbesteck und feinen Tischdecken aus Damast.

Achtsamkeit und Nachhaltigkeit

Das änderte sich mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Mit den Alliierten kam der amerikanische Stil in Mode. Und damit eine neue Lässigkeit: Blue Jeans, James Dean, Rock ’n’ Roll – und 1971 dann die erste Filiale von McDonald’s in Deutschland.

Der Trend erst zur informellen und dann schnellen Mahlzeit war damit eingeleitet. Statt des klassischen Sonntagsessens mit Markbrühe, Braten und Pudding-Dessert durfte es fortan auch internationaler sein – und gerne auch etwas einfacher gehen. 1974 kam mit dem Gulasch-Fix das erste Produkt der Maggi-Schnell-Reihe auf den Markt.

Mit weitreichenden Folgen für die Esskultur – was das Essen anbelangt und auch das Gedeck. Die Sets wurden kleiner, der Stil reduzierter, und Funktionalität gewann an Bedeutung: Alles musste spülmaschinenfest sein. Und so verschwanden langsam das Silber, die üppigen Dekorationen und die feinen Materialien vom Tisch.

Zutaten sammeln und pflücken
Die käsig stinkende Frucht des Gingkobaumes enthält einen Kern, der an Pistazien erinnert, der - einmal geknackt - eine milde Frucht enthält. Gesammelt hat sie Koch Dyson Watson-Thomas in Berlin. Quelle: Thorsten Firlus für WirtschaftsWoche
Die Gäste im Nobelhart & Schmutzig bekommen auch schon mal kleine Möhren mit Creme serviert. Aus dem Umland von Landwirten, mit denen Küchenchef Micha Schäfer zusammenarbeitet, um eine besondere Qualität zu bekommen. Quelle: Thorsten Firlus für WirtschaftsWoche
Wo beginnt Kochen, wo hört es auf? Dylan Watson macht sich in Berlin auf die Suche nach Produzenten, denen er vertraut. Ein Apfel in verschiedenen Bearbeitungen wird so zu einem Gang. Quelle: Thorsten Firlus für WirtschaftsWoche
Der Berliner Koch Sebastian Frank vom Restaurant Horvath, mit zwei Michelinsternen ausgezeichnet, setzt nicht nur auf die aufwändige Verarbeitung von frischen Gemüsen wie Kürbis, sondern lässt über Wochen, Sellerie eintrocknen, bis er so hart ist, dass er geraspelt werden kann. Quelle: Thorsten Firlus für WirtschaftsWoche
Geflügel, gerade auch Wildgeflügel wie Fasan, sollte vor dem Verzehr in der Regel stets durchgebraten sein. Mit Leichtsinn hat die Verwendung für Köche, die ihre Jäger kennen, dennoch nichts zu tun. Quelle: Thorsten Firlus für WirtschaftsWoche
Der in Neustrelitz nördlich von Berlin lebende Wenzel Pankratz verwendet nahezu ausschließlich Zutaten vom eigenen Hof. Die Weintrauben wachsen über dem Hauseingang. Das Stück in der Mitte folgt der Idee des "Nose-To-Tail", die die Verwendung sämtlicher Teile des Tieres propagiert. Die auch "weißen Nierchen" genannten Lammhoden offeriert Pankratz lediglich Gästen, die er besser kennt. Quelle: PR
Ist ein Schluck Wasser, der geliert wurde, ein Gericht? Diese Frage stellte beim Cooktank der Koch Andreas Rieger vom einsunternull in Berlin. Der aus dem Schwarzwald stammende Koch nahm Wasser von dort, übergoß es mit Likör aus selbst gesammelten Holunderbeeren und streute Pulver der Kerne darüber. In Japan ist diese Zubereitung als Watercake bekannt. Quelle: Thorsten Firlus für WirtschaftsWoche

Bis zuletzt. Denn mittlerweile ist das Essen wieder ein Ereignis, eine gefeierte Unterbrechung für schnelllebige Bildschirmmenschen geworden, die ihre Lust an Tradition und Ritual, am Handwerklichen und Haptischen wieder entdecken: an einem edlen Stück Biofleisch etwa, serviert auf einem blendend weißen Edelteller, umrandet von feinem Besteck. Entsprechend wird Porzellan von Foodbloggern auf Webseiten und Instagram nicht solo, sondern fast immer im Zusammenspiel mit appetitlich arrangierten Menüs inszeniert.

Kochen ist, jeder weiß es, zu einer Feierabendkunst avanciert: Die großen, offenen Küchen sind nicht nur Statussymbole, sondern vor allem Theaterbühnen, auf denen der Gastgeber seine Passion präsentiert. Und weil zum Drei-Sterne-Herd kein Ikea-Geschirr passt, investiert der essbewusste Durchschnittsbürger wieder in Teller und Tassen, Messer und Gabel.

Zuletzt wurden mit Porzellan und Besteck nach Angaben des Instituts für Handelsforschung (IFH) in Köln in Deutschland etwa 1,5 Milliarden Euro umgesetzt. Und auch Christina van Dorp, Präsidentin des Handelsverbandes Koch- und Tischkultur, bestätigt: „Es gibt eine Rückbesinnung auf hochwertiges Geschirr, auf die Freude am gedeckten Tisch.“

Sicher, es wäre bedenklich, wenn die Branchenvertreterin etwas anderes sagen würde. Doch ihre Aussagen und Zahlen decken sich mit der gefühlten Wahrheit. In Zeiten, in denen das Achtsame und Nachhaltige prämiert wird, wirken Schnellrestaurants mit Wegwerftellern aus Presspappe von gestern. Den Wandel hin zu mehr Lebensart beobachtet auch Laurenz Lenffer vom gleichnamigen Hamburger Fachgeschäft für Tischkultur. „Die jungen Leute achten auf die Umwelt“, sagt er, und also auch auf das, was sie täglich zu sich nehmen: „Entsprechend genießen sie ihr Essen in Ruhe, auf Porzellan, mit Glas und Besteck.“

Slow-Food und regionale Lebensmittel

Tatsächlich setzten die Trendsetter auf Slow-Food und regionale Lebensmittel. Sie bringen ihre Stofftüten mit zum Einkaufen und schieben ihre eigenen Becher über die Theke, wenn sie sich an der Kaffeetankstelle ihr Aufwachgetränk abholen. Auch der Handel fördert das Umweltbewusstsein: Immer mehr Kaffeeketten schaffen ihre Einwegbecher ab, verkaufen praktische Steingutbehälter mit Gummideckel und geben Rabatte für Kunden, die ihr eigenes Trinkgefäß mitbringen.

Bei McCafé und den Tankstellenshops von Aral sparen Bring-your-own-pot-Kunden zehn Cent, bei Balzac 25 Cent und bei Starbucks sogar 30 Cent.

Für die Tischkulturbranche ist die neue Mischung aus Öko und Achtsamkeit, Tradition und Pop ein Segen; in Deutschland profitiert davon etwa das Flensburger Familienunternehmen Robbe & Berking, das bereits seit 1874 und in der fünften Generation Besteck für Betuchte herstellt: Auf einmal sind sie wieder angesagt. „Die Kunden werden immer jünger“, sagt jedenfalls die Verkäuferin im Robbe & Berking-Shop im KadeWe: „Es ist wieder ein weitverbreiteter Brauch, Tafelsilber zur Taufe, Konfirmation oder Abitur zu verschenken.“

So teuer ist Bio-Ernährung
Wo Bio draufsteht, ist auch Bio drin Quelle: dpa
Bio-Produkte 42 Prozent teurer Quelle: dpa
Verbraucher können sparen Quelle: dpa
Größte Preisunterschiede bei tierischen Produkten Quelle: dpa
Bio-Supermärkte nur elf Prozent teurer Quelle: obs
Günstigste Variante: Supermärkte und Discounter Quelle: dpa
Wo ist Obst und Gemüse besonders preiswert?Besonders preiswert ist biologisch angebautes Obst und Gemüse im Discounter erhältlich. Discounter beziehen den Großteil ihres Produktsortiments nicht aus Deutschland und können so das niedrige Preisniveau halten. Für Verbraucher, bei denen der Verdienst nicht für einen Einkauf im Biomarkt reicht, sind Discounter eine Alternative - ökologisch sind die Produkte durch weite Transportwege aber häufig fragwürdig. Quelle: dpa

Natürlich hat die Frischzellenkur der Marke auch mit ihrer Weiterentwicklung und Anpassungsfähigkeit zu tun. Mit der Linie Sphinx etwa, die so schlicht ist, dass sie auch aus der Feder eines Bauhaus-Designers stammen könnte. Das gradlinige Messer, die Gabel, die entfernt an die Form eines Pommes-Pieksers erinnert – das Robbe & Berking-Besteck aus dem Jahr 2017 hat nichts mit dem verschnörkelten Familiensilber von früher zu tun. Auch muss das Besteck längst nicht mehr von Hand gereinigt werden, kann selbstverständlich in die Spülmaschine.

Dass auch die Funktionalität stimmen muss, hat allerdings noch nicht jeder Anbieter der alten Garde verstanden. Und so gibt es viel Raum für jüngere Hersteller, etwa die Berliner Porzellanmanufaktur Hering. Heller Natursteinboden, dunkle Holzregale, ein schwarzer langer Tisch: Der Berliner Flagship-Store ist genauso minimalistisch gehalten, wie die Produkte es sind. Viel Weiß, zartblaue oder goldene Akzente. Und natürlich das Erkennungszeichen: Elemente aus Biskuit-Porzellan, das nicht glasiert wurde und deshalb matt schimmert. „Wir wollen die Schönheit des Materials zur Geltung bringen, ohne es zu vergewaltigen“, erklärte Gründerin Stefanie Hering mal in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“.

13.11.2017, München Michael Käfer, Chef der Münchner Käfer Gruppe, spricht mit WirtschaftsWoche-Korrespondent Matthias Kamp über neue Gastro-Trends, moderne Führung in Familienunternehmen und das traditionsreiche...

1992 hat Hering das Unternehmen gegründet. Damals war sie eine der Ersten, die das Porzellanhandwerk anders interpretierte als die etablierten Hersteller – und konsequent Abstand nahm von romantisch-floralen Mustern. Es hat eine Weile gedauert, bis der Geschmack der Käufer sich dem Stilwillen der Produzenten angepasst hat, gewiss. Doch heute wird auch in Sterne-Restaurants wie dem Berliner Reinstoff von Hering-Tellern gegessen. Alle Linien, versichert Hering, sind miteinander kombinierbar. Wer mit dem reinweißen Einsteiger-Set Velvet oder Pulse startet, kann es später noch mit einem eisenglasierten Teller aus der Serie Silent Iron kombinieren.

Damit liegt Hering im Trend: Weiß ist heute in allen Schattierungen gefragt, gerne kombiniert mit rustikaleren Elementen aus Kupfer, Steingut oder Holz. Das Design der Teller orientiert sich dabei immer auch an der Küche, die gerade angesagt ist. In Zeiten der sogenannten Poke Bowls, in denen Gemüse und marinierter Fisch über gedämpften Reis geschichtet wird, geht der Trend zu großen, bauchigen Schüsseln. Das klingt nicht gerade nach üppiger Tafel. Aber nach kosmopolitem Slow Food allemal.

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