Uhren-Design Die Architekten der Zeit

Am Anfang ist der Stift. Allen modernen Techniken zum Trotz sind für erste Skizzen Stift und Papier auch weiterhin aktuell. Quelle: Guillaume Megevand für WirtschaftsWoche

In Genf an der Haute école d’art et de design lernt der Nachwuchs der Schweizer Uhrenindustrie sein Handwerk – und hat keine Angst vor der Apple Watch.

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Zwölf dicke Striche und 48 dünne, dazu drei lange Zeiger von unterschiedlicher Länge und Breite. Eloïse Richet sitzt vor ihrem MacBook, neben ihr liegt ein Zeichenblock, in den hat sie gerade das Ziffernblatt einer Uhr skizziert. Mit Hunderten von Mausklicks überträgt sie den Entwurf in das Grafikprogramm ihres Computers, legt Größe, Dicke, Abstände, Proportionen und Farben fest. „Erst wenn ich mein Modell fertig entworfen habe, mache ich mir Gedanken über die Materialien, mit denen ich es umsetzen möchte“, sagt Richet. Für einen Entwurf braucht sie mehrere Stunden, manchmal mehrere Tage.

Diese Detailliebe und Geduld, diesen ganz buchstäblichen Sinn für alles Über-Zeitliche, kann man nicht lernen. Aber weil die 20-jährige Französin ihn besitzt, sitzt sie an einem warmen Tag im April in einem lichtdurchfluteten Raum vor einer Fensterfront, mit Blick auf den Innenhof der Haute école d’art et de design, kurz Head.

Hier, an der Kunsthochschule in Genf, tüftelt der Nachwuchs der Schweizer Uhrenindustrie an den Kollektionen der Zukunft, mit Zirkel, Bleistift und Laptop. Der Gründerzeitbau im Zentrum der Stadt beherbergt die landesweit einzige Hochschule, die sich auf Uhrendesign spezialisiert hat.

Wo der Nachwuchs der Schweizer Uhrenindustrie sein Handwerk lernt
Am Anfang ist der Stift. Allen modernen Techniken zum Trotz sind für erste Skizzen Stift und Papier auch weiterhin aktuell. Quelle: Guillaume Megevand für WirtschaftsWoche
Prototypenbau ist wichtig, um die Wirkung einer Idee in natura betrachten zu können. Quelle: Guillaume Megevand für WirtschaftsWoche
Quelle: Guillaume Megevand für WirtschaftsWoche
Dozent Nicolas Martenat bespricht mit einer Studentin deren Entwurf eines frühen Stadiums eines Zifferblatts. Quelle: Guillaume Megevand für WirtschaftsWoche
Wenn die Uhr rund sein soll, ist der Zirkel das erste Werkzeug beim Erstellen eines Entwurfs. Quelle: Guillaume Megevand für WirtschaftsWoche
Wenn die Kreativität keine Rücksicht nehmen muss auf die Nutzung, können auch farnartige Applikationen eine Uhr in ein Schmuckstück verwandeln. Dann wird die Zeitanzeige zur Nebensache. Quelle: Guillaume Megevand für WirtschaftsWoche
Drehen, Fräsen, Polieren - die Herstellung eines Uhrwengehäuses ist ein maschinen- und materialintensives Verfahren. Quelle: Guillaume Megevand für WirtschaftsWoche

Neben Richet sind derzeit 15 weitere Studenten in den Bachelor- und Master-Studiengängen im Schmuck- und Accessoires-Design eingeschrieben. Sie mussten für die Bewerbung eine Mappe mit kreativen Arbeiten vorbereiten und ein Interview mit der Aufnahmekommission meistern. Nach dem ersten Studienjahr können sich die Studenten auf Uhren spezialisieren. Sie belegen Kurse im Uhrenzeichnen, zur Geschichte der Uhrmacherkunst oder zum Verpackungsdesign für Zeitmesser. In Projektarbeiten kooperieren sie mit renommierten Unternehmen wie Piaget oder Urwerk.

Der perfekte Ort

Kein anderer Ort wäre für die Ausbildung von Uhrendesignern besser geeignet. Die Stadt im südwestlichen Zipfel der Schweiz ist gleichsam die Urheimat der Uhrenindustrie. Marken wie Patek Philippe oder Vacheron Constantin wurden in Genf gegründet, Labels wie Rolex, Piaget und Chopard haben ihren Sitz rund um den See. Im Zentrum stoßen Besucher alle paar Meter auf Uhrenboutiquen und großflächige Plakatwerbung für hochpreisige Modelle. Ein Wahrzeichen der Stadt ist eine riesige Uhr namens L’Horloge Fleurie, die aus mehr als 6500 akkurat kreisförmig angepflanzten Blumen besteht. Die Geschichte der Uhrmacher in Genf reicht zurück bis ins 16. Jahrhundert. Damals verbot Johannes Calvin das Tragen von Schmuck. Der sittenstrenge Reformator lehnte jegliche Zurschaustellung von Reichtum ab. Also stellten die Juweliere und Goldschmiede auf die Produktion von Uhren um – und von Genf aus entwickelte sich die Schweiz zum Zentrum der weltweiten Uhrenindustrie. Heute zählt das Land rund 700 Hersteller, die 2016 knapp 57.000 Menschen beschäftigten. Zum Vergleich: Im Jahr 2000 waren es erst 37.000. Marktführer Richemont setzte 2017 umgerechnet 10,6 Milliarden Euro um, die Swatch Group kam auf 6,8 Milliarden – trotz Apple und Co.

Nicht nur Trockenübungen

Für wen die angehende Uhrendesignerin Eloïse Richet gerade ein Ziffernblatt entwirft, darf sie noch nicht sagen. In den kommenden Tagen soll sie dem Hersteller ihre Entwürfe präsentieren, als Teil einer Sonderedition der Kollektion 2019. Wenn es gut läuft, werden ihre Entwürfe 1000-fach in Uhrengeschäften weltweit ausliegen. „Diese Art von Kooperation ist uns sehr wichtig“, sagt ihr Dozent Nicolas Mertenat, „die Studenten sollen nicht nur für sich arbeiten, sondern ihre Projekte auch umsetzen.“
Mertenat arbeitet seit 20 Jahren als Uhrendesigner, zuletzt für Omega. 2015 startete er sein eigenes Label Blancarré. Von der Selbstständigkeit hatte er schon lange geträumt. Aber als er mit Mitte 20 seine Karriere startete, fiel ihm der Einstieg in diesen Bereich schwer. Mertenat nahm den Umweg übers Produktdesign für einen Kaffeemaschinenhersteller, erst später wechselte er zur Swatch-Gruppe. „Hätte es den Studiengang damals schon gegeben, hätte ich mich vermutlich eingeschrieben“, sagt er.

Auch weil die Unternehmen auf kreative Köpfe angewiesen sind. Die Hersteller seien zwar sehr einfallsreich, was technische Neuerungen angehe: „Aber sie brauchen unbedingt mehr kreative Köpfe in den Designabteilungen“, sagt Mertenat, „und die Studenten bringen frische Ideen mit.“

Es lässt sich nicht abstreiten: Niemand ist heutzutage noch auf eine mechanische Uhr angewiesen. War sie früher zur Zeitmessung unverzichtbar, begnügen sich heute viele Menschen mit einem Blick aufs Handy oder auf die multifunktionale Smartwatch, die nebenbei auch nahe gelegene Restaurants suchen, Freunde zum Essen einladen und Rechnungen bezahlen kann. Laut einer Analyse des Marktforschers Canalys verkaufte Apple im Weihnachtsquartal 2017 mit rund acht Millionen Apple Watches erstmals mehr Uhren als die gesamte Schweizer Uhrenindustrie. Mechanische Uhren sind daher vor allem eine modische Aussage, zugleich Ausdruck der Persönlichkeit und Statussymbol – und dafür sind manche Menschen bereit viel Geld zu bezahlen. Nach einer Studie der Marktforschung IfD Allensbach besitzen immerhin 6,9 Millionen Deutsche eine Uhr im Wert von mehr als 500 Euro. Eine weitere Million gab an, sich bald eine kaufen zu wollen.

Vom minimalistischen Design bis hin zu High-Fashion-Uhren

Der Bedarf der Industrie, gepaart mit der Nähe zu den großen Marken, hat die führenden Köpfe der Head-Hochschule vor zweieinhalb Jahren dazu motiviert, einen Lehrstuhl für Uhrendesign ins Leben zu rufen. Die Abschlussprojekte der Bachelor-Absolventen verdeutlichen, wie sehr die Dozenten auf Kreativität pochen.

Die einen Studenten haben High-Fashion-Uhren entworfen, die mit Blüten oder langen bunten Federn besetzt sind. Andere setzen auf schlichte Modelle mit rot-weißem Lederarmband, die an den Motorsport angelehnt sind. Wieder andere haben minimalistische, pastellfarbene Designs kreiert, mit integrierter, beweglicher Kugel auf dem Ziffernblatt, an der die Träger zum Stressabbau drehen können.

Jeder Student solle einen anderen Ansatz für seine Uhr verfolgen, sagt Valérie Ursenbacher. Die kleine Frau mit den langen dunkelblonden Locken und blauen Augen leitet seit Anfang 2017 den Lehrstuhl für Uhrendesign. Manchen Studenten gehe es darum, ein Gefühl für die Vergänglichkeit der Zeit zu erzeugen, andere wollten Eleganz und Lebensfreude vermitteln. Diese Vielfalt ist ausdrücklich erwünscht.

Ursenbacher favorisiert unter allen Abschlussprojekten die Arbeit von Sandra Garsaud. Die Bachelor-Absolventin hat Modelle für Kinder verschiedener Altersklassen entworfen, mit heller Buchenholzfassung, Kautschukarmbändern und Aluminiumgehäuse. Für die Jüngsten besteht das Ziffernblatt aus Mond und Sternen oder Messer und Gabel, für die älteren werden die Bilder nach und nach durch Zahlen und verschiedenfarbige Minuten- und Sekundenzeiger ersetzt. Kürzlich zeigte die Studentin ihre Uhren auf einer Ausstellung in Mailand.
Ihre Disziplin sei „vergleichbar mit Architektur“, sagt Ursenbacher. Und tatsächlich wirken die Entwürfe, die auf einem langen Tisch in der Mitte eines hellen Kursraums liegen, wie architektonische Skizzen. Ursenbacher lässt ihre Studenten präzise perspektivische Zeichnungen von Uhren anfertigen, bei denen sie auch den Lichteinfall und die Schatten mitbeachten müssen.

Außerdem sei wichtig, dass die Studenten nicht nur die Ästhetik gestalten, sondern auch die Mechanik des Uhrwerks verstehen. Deshalb umfasst ihr Fach auch Kurse in Zusammenarbeit mit dem Mikromechanik-Lehrstuhl der Genfer Ingenieurhochschule. Ursenbacher will den Studenten klarmachen: Für eine Uhr braucht es nicht nur feingeistige Designer, sondern auch fleißige Ingenieure – und reibungsloses Teamwork. An einem einzigen Modell arbeiten bis zu 25 verschiedene Personen, ob fürs Uhrwerk, für die Zeiger, das Gehäuse oder die Schnalle am Armband. Für jedes Element gibt es eigene Spezialisten.

Eine Uhr ist eben doch mehr als nur Schmuck. Und gerade das finden die Studenten so reizvoll.

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Rolex: GMT-MasterAls Modell "126710 BLRO" stellt Rolex ein Modell vor, dass dank seines Farbverlaufs auf der Lünette auch den Zusatz "Pepsi" liebevoll von den Fans der Marke angehängt bekommen hat. Einst als Weißgoldversion kommt sie nun in Stahl auf den Markt. Quelle: PR
Hublot Big Bang Unico Red Magic Quelle: PR
Patek Philippe: Reference 5531RHinter dem prosaischen Kürzel verbirgt sich eine Uhr, die dem Weltreisenden die Zeitzonen anzeigt. Und wenn er möchte, schiebt er den Hebel links am Gehäuse und es ertönen per Klangfedern die Stunden und Minuten - der sogenannten Minutenrepetition.
Nomos Glashütte „Autobahn“ Quelle: PR
Schwarz Etienne Roswell 08 Quelle: PR
Chopard Happy Sport Quelle: PR
Ferdinand Berthoud Chronomètr FB-1R.6-1 Quelle: PR

Auch Martin Guillet, der an diesem Apriltag mit roten und gelben Filzstiften an einem Tisch sitzt und drei Kreise auf dem Ziffernblatt seines Chronographen nachzeichnet. „Wer Schmuck entwirft, ist freier und kann mit sämtlichen Formen arbeiten“, sagt er. Bei einer Armbanduhr sei das nicht möglich. „Wir haben Bewegung im Kern, wir müssen die technischen Aspekte beachten. Es gibt beim Design viel mehr Restriktionen. Das macht es so herausfordernd.“

Der 24-Jährige ist im zweiten Bachelor-Studienjahr. Sein Traum ist es, später als Designer für die großen Uhrenlabels zu arbeiten. Das ist gar nicht so unwahrscheinlich: Viele Head-Absolventen arbeiten für Labels wie Olivier Vaucher, Romain Jérôme oder Harry Winston. Doch bevor es so weit ist, programmieren sie stundenlang 3-D-Modelle und grübeln über Proportionen, Maße und Materialien, ehe sie Prototypen mit 3-D-Drucker oder CNC-Fräse erstellen können.

Uhrendesigner und Dozent Nicolas Mertenat sieht die Hightechkonkurrenz von Apple oder Samsung nicht als Gefahr – weder für sein Kerngeschäft noch für die berufliche Zukunft seiner Studenten. Im Gegenteil: Er glaubt, dass es in Zukunft viel mehr Hybridprodukte aus mechanischen und smarten Uhren geben wird. „Aber die klassischen Uhren wird es daneben trotzdem immer geben“, sagt Mertenat, „sie sind einfach zeitlos schön.“

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