Vegetarisches Restaurant Hiltl Die Kirche der Gutesser

Fleischlos glücklich: Etwa 100 verschiedene Speisen gibt es bei Hiltl allein am Buffet – zum Beispiel Soja-Hackbällchen mit Kichererbsen, Zucchini, Couscous. Quelle: Marius Grieder

Die richtige Ernährung ist für viele zur teuren Ersatzreligion geworden. Davon profitiert Rolf Hiltl, Chef des ältesten vegetarischen Restaurants der Welt. Ein Besuch.

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Manche halten Rolf Hiltl für genial, andere für geltungssüchtig. Tatsache ist: Bescheidenheit ist seine Sache nicht. Weil alles hier in der Züricher Sihlstrasse begann, fand Hiltl es angemessen, vor sein Restaurant einen leuchtend grünen Wegweiser aufzustellen. Darauf vermerkt sind keine touristischen Tipps, sondern gastronomische Sehenswürdigkeiten – Ableger des Hiltl’schen Imperiums. Die Metzgerei zum Beispiel eine Minute entfernt. Die Bar fünf Minuten. Oder ein weiteres Restaurant sieben Minuten.

In der Sihlpost selbst, nicht weit weg vom Hauptbahnhof, steht man erst mal in der Schlange. Zunächst am Buffet, danach an der Kasse. Das Essen ist lauwarm, wenn man endlich Platz genommen hat. Trotzdem ist das Lokal auch an einem ganz normalen Mittwochnachmittag voll besetzt. Nicht, obwohl man Fleisch auf der Speisekarte vergeblich sucht. Sondern eben deshalb.

Zugegeben, der Erfolg hat ein wenig auf sich warten lassen. Die heute zündende Idee kam zwei deutschen Auswanderern schon vor 120 Jahren. Sie eröffneten in der Sihlstrasse das erste vegetarische Restaurant der Welt, so jedenfalls steht es im Guinnessbuch der Rekorde. Aber weil die Zeit dafür noch nicht reif war, befanden sich die beiden Gründer fünf Jahre später in finanziellen Nöten. Es war Ambrosius Hiltl, der das Restaurant 1903 vor der Schließung bewahrte. Und sich mit ihm an die Spitze einer neuen Bewegung setzte: Fleischlos ist prima.

3 Tipps für bessere Ernährung im Job

Dass Ambrosius’ Urenkel Rolf das Unternehmen inzwischen in vierter Generation führt und zu einem veritablen Veggie-Reich ausgebaut hat, zu dem neben Metzgerei, Bar und Restaurants auch eine Kochschule und Strandbad-Cafés gehören, Merchandising-Artikel und eine 50-prozentige Beteiligung an einer vegetarischen Fast-Food-Kette – das alles ist nicht nur Hiltls geschäftlichem Geschick geschuldet und seinem Geschmack. Sondern auch seinem Gespür dafür, was Kunden heute wichtig ist. Hiltls Geschichte ist daher auch ein Lehrstück, warum wir heute essen, was wir essen.

Die richtige Ernährung ist für viele Menschen eine Art Ersatzreligion. Selbst pubertierende Jugendliche, die früher einen Hang zu kalorischen Exzessen entwickelten, laden unter den Hashtags #eatclean und #eathealthy heute gesunde kulinarische Kreationen ins Bilder-Netzwerk Instagram. Akkurat angerichtete Teller mit Quinoa-Avocado-Salaten sind da etwa zu sehen, serviert mit Kalorienzahl, Nährstoffdichte und einer gehörigen Portion Ideologie. Manche verteufeln Milch als Ursache für Osteoporose oder Karies. Manche das Getreideprotein Gluten als Quelle von Depressionen und Verdauungsproblemen. Andere erklären Zucker zur schlimmsten Droge der Zivilisation. Offenbar muss Ernährung heute immer eine Ausdrucksform sein: kein Rezept ohne passende Überzeugung. Meistens nach dem Motto: Verzicht statt Völlerei.

Der Veggie-Papst: Rolf Hiltl wollte das Image des Vegetariers verändern Quelle: René Ruis

In einer Umfrage der Techniker Krankenkasse behaupten 45 Prozent der befragten Deutschen von sich, dass sie sich vor allem gesund ernähren. Gleichzeitig hat sich die Anzahl der Vegetarier in den vergangenen 20 Jahren nahezu verzehnfacht. Mittlerweile verzichten nach Angaben des Interessenverbands ProVeg allein in Deutschland rund acht Millionen Menschen auf Fisch und Fleisch. Hinzu kommen 1,3 Millionen, die sich vegan ernähren – die also auch auf tierische Produkte wie Eier und Milch verzichten. Ein prima Geschäft, auch für Rolf Hiltl: „Natürlich profitieren wir davon, dass vegetarische Ernährung im Trend liegt“, sagt der 52-jährige, schmale Mann mit seinen wilden Locken und dem braunem Teint: „Mein Urgroßvater hatte es viel schwerer.“

Dessen Entscheidung war noch keine Frage des Lebensstils. Ambrosius Hiltl litt unter schwerem Rheuma, Anfang des 19. Jahrhunderts eine Art Volkskrankheit. Viele Betroffene verzichteten auf Anraten von Medizinern auf Fleisch, weil sie sich davon eine Linderung ihrer Schmerzen versprachen. Dem Image der Vegetarier war das eher abträglich, genau wie der ursprüngliche Name des Hiltl-Restaurants: „Vegetarierheim und Abstinenz Café“. Die Einwohner nannten es despektierlich Wurzelbunker, die meisten Gäste betraten es nur durch den Hintereingang. Wer freiwillig auf Sülze, gebackene Leber und Rinderroulade verzichtete, galt als verrückter Körnerpicker.

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