Neulich am späten Abend im halb leeren ICE auf der Fahrt nach Berlin: Da sitzen zwei Damen hintereinander, die sicher älter wirken, als sie sind. Die eine strickt, die andere macht Kreuzworträtsel und hat eine Tupperdose mit Butterbrot und Weintrauben vor sich.
Hinter seinem MacBook sitzt ein tätowierter, durchtrainierter Hipster-Haudegen von etwa 30 Jahren mit rotem Vollbart. Er spricht seit einiger Zeit in leicht hochgeregelter Zimmerlautstärke am Mobiltelefon mit einem Bekannten. Als er auflegt, quakt eine der Damen vor: „Dass muss aber auch nicht sein, dass Sie hier so lange telefonieren.“
Da erhebt sich der Hüne aus seinem knirschenden Erste-Klasse-Ledersitz, schreitet auf die Dame zu, faltet seine großen Hände wie zum Gebet und sagt lächelnd in sanftem Ton: „Wenn Sie so etwas stört, dann setzen Sie sich doch einfach fünf Meter weiter vorne hinter der Glastür in die Ruhezone.“
Die Frau mit den Stricknadeln mischt sich ein: „Es ist aber schon nach 22 Uhr.“
Der Mann kichert in seinen Bart und setzt sich wieder: „In einem ICE gibt es doch keine offizielle Nachtruhe.“
Bei sowas geht mir meist sofort der Puls hoch und ich muss mich zusammenreißen, um mich nicht einzumischen. An Bord war ich still, Ihnen sag ich´s: Wäre der Mann in direkter Begleitung seines Bekannten vom Telefonat unterwegs gewesen, dann hätte er sicherlich nicht leiser zu ihm gesprochen. Plus die Entgegnungen des Bekannten direkt im ICE. Das wäre doch lauter gewesen. Mein Urteil: Die Damen liegen falsch. Ihre Dünnhäutigkeit passt nicht mehr zur aktuellen Lage. Peinliche Handy-Egoisten sind doch wirklich selten geworden. Deshalb die neue Devise: Gemach, gemach!
Störende Klingeltöne sind noch passé
Noch vor zehn Jahren galten Handyklingeltöne als Statement. Als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. „Spiele mir deinen Klingelton vor und ich sage dir, wer du bist.“ Katzenmiau, Glockengeläut, Dampfertuten oder plötzlich aufdröhnende Techno-Sounds mit weiblichen Vocals - technisch bedingt ohne hörbare Bässe. Diese Aufdringlichkeit ist doch sowas von Nullerjahre.
Heute muss es heißen: „Spiele mir deinen Klingelton vor. Damit ich endlich mal wieder einen höre.“
Denn mittlerweile vibrieren die Telefone doch überwiegend. Heutzutage kann man sich die Vibrationsalarme je nach Kontakt im Telefonbuch längst individuell selber komponieren. Zweimal kurz, einmal lang, Schatz ruft an. Fünfmal kurzer Warnimpuls: Shit, der Wagner aus der Buchhaltung. Vibrieren für einen selber statt Klingeltöne zum Angeben. Wenn sie überhaupt noch klingeln, dann tun das die allermeisten iPhones meiner Bekannten gemäß Werkseinstellung. Handyklingeltöne herunter zu laden, ist heute wirklich meist Nerdkram für Jungs, die nicht wissen, wie man Frauen anspricht.
Und auch das Geschrei am Handy in der Öffentlichkeit ist heute doch eher eine Ausnahme. Ich erkläre mir das so: Mittlerweile haben diejenigen mit dem auffälligen Schallorgan doch alle schonmal alle in der Öffentlichkeit einen Einlauf verpasst bekommen: „Hey, das ist ein Telefon. Sie müssen nicht rüber krakeelen!“ Das sitzt. Fortschritt durch Feedback. Wer heute zu laut in der Öffentlichkeit telefoniert, blamiert sich doppelt:
1. Er telefoniert zu laut.
2. Er telefoniert im Jahr 2017 immer noch zu laut.
Aber wer es grundsätzlich ablehnt, wenn andere in ihrer Gegenwart telefonieren, der sollte doch einfach besser Zuhause bleiben und sich ganz tief Oropax reinschieben. Das mit den Handys, das geht nämlich nie mehr weg.
Handy-Ruhezone ist was für Grundschüler
Unterm Strich sind die schlimmsten Handy-Marotten erledigt, würde ich sagen.
Was ist dann aber mit diesen telefonfreien Zonen? Also, ich habe noch nie feststellen können, dass eine Zugfahrt in der ICE-Ruhezone ruhiger ist als in der mit dem Handy-Symbol.
Umgekehrt: Wenn nicht gerade eine besoffene Horde hormongeschwängerter Hooligans vom Auswärtsspiel heimfährt, ist es auch in den Handyzonen meist sehr leise. Weil grundsätzlich unter sich fremden Menschen in Europa gilt: Spiel dich nicht so in den Vordergrund.
Und ich kann auch nicht verstehen, dass Fluggesellschaften wie die Lufthansa sinngemäß sagen: Bei uns an Bord gerne SMS und Internet. Aber keine Sprachtelefonie. Unsere Kunden wollen an Bord ihre Ruhe haben.
Ich habe mich mal aus reiner professioneller Neugier probeweise über die Lufthansa-Regeln hinweggesetzt und habe per Facetime über das Internet und mit Headset eine Bildtelefonie mit meiner Schwester und meinen Nichten gemacht. Ergebnis: Vor allem meine Nichten waren ganz entzückt und nach einigen Minuten fragte mich mein Sitznachbar: „Hä? Sprichst du mit mir?“ Er hatte vor lauter Turbinenlärm anfangs nicht einmal gehört, dass ich überhaupt mit der anderen Seite der Welt am Quatschen war.
Ich schlage folgende simple Regel im Flugzeug vor: „Telefonieren Sie bitte in Zimmerlautstärke.“ Fertig. Wer sich nicht dran hält, wird vom Bordpersonal zusammengeschissen. So wie es auch üblich ist, wenn man sich an Bord nicht hinsetzt und anschnallt, wenn es sein muss. Aber vielleicht haben die Fluggesellschaften in Wirklichkeit ja einfach Angst, dass ihre Internet-Verbindungen der Datenflut nicht gewachsen sind.
Der Griff zum Handy im Restaurant: wirklich so schlimm?
Bleibt der von Technikfeinden als die Handy-Ursünde verschriene Blick aufs Handy beim romantischen Dinner zu zweit. Ich sag Ihnen mal, was unhöflich ist: Sich am Esstisch die Nase zu putzen. In fast allen Kulturen ist das ein 1-A-Stimmungskiller. Aber solange wir uns in Deutschland am Esstisch die Nase putzen, kann man im Gegenzug gar nicht oft genug aufs Handy gucken. Das ist hygienischer und oft auch informativer.
Aber auch ohne Naseputzen: Das Smartphone gehört zu den Unterwegsutensilien wie Schlüssel und Portemonnaie. Und wenn es in der Hose vibriert, wird man nunmal neugierig.
Ja, es dann raus zu ziehen und die Nachrichten auf dem Startbildschirm zu überfliegen, kann dann genauso unpassend sein, wie mitten im Satz des Gegenübers das Thema zu wechseln („Merk dir, was du sagen wolltest…“), oder mit Leuten am Nachbartisch zu flirten. Manchmal kommt der Blick aufs Handy aber genau richtig. So wie es eben auch den richtigen Moment zum Themenwechsel gibt („Kannst du meinem Ex bitte ausrichten, dass-“ - Ey, guck mal hier, ein kleiner Krebs in der Muschel!“), und im dramatischsten Fall sogar den richtigen Moment, um bei einem anfangs noch romantischen Dinner anzufangen, mit dem Nebentisch zu flirten.
Hören wir also auf, uns am Esstisch die Nase zu putzen. Und verteufeln wir nicht das Telefon beim romantischen Essen. Liest der andere lieber ewig seine Nachrichten, wird wahrscheinlich sowieso nichts mehr draus.