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Die Nato gießt Öl ins Feuer

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Putin ist nicht das Problem

Ich würde dieser Sichtweise in allen Punkten beipflichten. Wir schädigen mit der beschleunigten Sanktionsspirale und mit den völlig fehl geleiteten, wie Theissen sagt, „sich steigernden moralischen Empörungen“ extrem uns selbst. Wir haben über Jahrzehnte gute Beziehungen mit Russland begonnen, die uns zunächst nicht kommunistisch und danach nicht zu Dauer-Wodka-Trinkern und Kaviar-Essern gemacht haben. Dieses friedvolle und wirtschaftlich wertvolle Miteinander drohen wir nun durch die gegenwärtige Politik zu zerstören.

Das eigentliche Problem ist dabei nicht Putin, sondern die Ukraine intern. Wir haben hier auf der einen Seite den Milliardär und Staatspräsidenten Petro Poroschenko, der durchaus Realitätssinn erkennen lässt. Allerdings kann ich nur mit dem Kopf schütteln, weshalb die Nato mit Poroschenkos Teilnahme am Gipfel in Wales Putin weiter signalisieren musste: Achtung, Nato ante portas!

Auf der anderen Seite haben wir in der Ukraine einen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk, der keine Gelegenheit auslässt, um gegen Russland zu hetzen und so die russische Mehrheit in der Ost-Ukraine zu verunsichern. Dass US-Präsident Barack Obama vor dem Nato-Gipfel ins Baltikum reiste und dort Treueschwüre aussprach, war für mich eine ganz krasse Provokation gegenüber Russland und völlig deplatziert in der gegenwärtigen Situation. Hier wäre ein vermittelndes Auftreten angebracht gewesen anstelle purer Konfrontation.

Bedrohungen nachvollziehen

Ich freue mich, dass neben Theissen sogar ein ausgewiesener US-Militärstratege und Außenpolitikexperte, der Politikprofessor John J. Mearsheimer von der Unsiversität Chicago, Klartext in gleicher Richtung spricht. Putin habe die Krim nicht „aus der schon lange bestehenden Sehnsucht heraus annektiert, das sowjetische Großreich wieder aufzurichten“, schreibt er in einem bemerkenswerten Aufsatz im „Handelsblatt“.

Richtig sei vielmehr: „Die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten tragen den Großteil der Verantwortung für die Krise.“ Und er kommt nach längeren, sehr aufschlussreichen Fakten zu einer verständnisvollen Sichtweise für die Situation, in der sich die russischen Politiker nach allem befinden, was die USA und die EU bisher zur Infiltration der Ukraine unternommen haben. „Wenn russische Führer das Social Engineering des Westens in der Ukraine sehen, befürchten sie“, schreibt Mearsheimer, „dass ihr Land das nächste sein könnte.“

Ich bin zutiefst überzeugt: Wir müssen verstehen, dass die Wahrnehmung von Bedrohungen, vor allem wenn sie nachvollziehbar sind wie in Russland, eine Tatsache ist, an der man als Politiker nicht verbeigehen darf. „Wahrnehmungen, ob richtig oder falsch, sind Realitäten, die ins Kalkül zu ziehen sind“, sagt Theissen völlig zurecht.

Vergessen wir nicht: Tun wir das nicht, liefern wir uns vollständig amerikanischen Wirtschaftsinteressen aus. Die USA wollen auf gar keinen Fall, dass Russland und Europa wirtschaftlich stärker werden, schon gar nicht gemeinsam. Dann gäbe es eine weitere riesige wirtschaftliche Gegenmacht zu den USA. Und das in einer Situation, in der sich China anschickt, nach der Kaufkraft die USA als größte Wirtschaftsmacht der Welt abzulösen.

Das müssen wir klar erkennen und dürfen deshalb die USA in ihrem Kurs nicht unterstützen, uns letztlich zu schwächen. Wir müssen uns Russland als wichtigen zukünftigen Wirtschaftspartner erhalten und dürfen auf keinen Fall die Konfrontationswünsche von Amerika erfüllen.

Immerhin werden die Amerikaner, ob sie wollen oder nicht, Russland noch brauchen: etwa im Kampf gegen den islamistischen Terror oder gegen das Atomprogramm des Iran. Damit sollten wir den Amerikanern selbstbewusst entgegentreten.

Gut, dass dies nun zwei Experten aus der Wissenschaft ähnlich sehen, die man bei dieser ihrer Herkunft nicht mit dem politischen Kampfbegriff Putin-Versteher totschlagen kann.

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