Diesmal sind sich die irakischen Offiziere ganz sicher. Noch in diesem Jahr, verkündete das Verteidigungsministerium vor kurzem, würden die Sicherheitskräfte Ramadi einnehmen, die Hochburg der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Westen des Landes. Das Militär hat zwar schon häufiger angekündigt, die Befreiung der Provinzhauptstadt stehe unmittelbar bevor. Jetzt aber könnte die Vorhersage eintreffen. Nach monatelangen Kämpfen ist die Armee bis ins Zentrum Ramadis vorgedrungen. Der Sieg scheint nahe.
Für das Militär und die Regierung des Irak wäre dies politisch, militärisch und symbolisch ein äußerst wichtiger Erfolg - für die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hingegen eine schmerzhafte Niederlage. Ramadi ist bisher neben Mossul im Norden und Falludscha im Westen mit die wichtigste Hochburg der sunnitischen Extremisten im Land. Sie liegt im Kerngebiet der irakischen Sunniten, wo die Dschihadisten unter der Bevölkerung die stärkste Unterstützung finden. Zudem führt von Ramadi aus eine wichtige Verbindung in die ostsyrische Stadt Dair as-Saur, ebenfalls ein wichtiges Zentrum der Terrormiliz.
Für Iraks Regierungschef Haidar al-Abadi ist ein Erfolg der Offensive im Westen fast schon überlebenswichtig. Hinter dem schiitischen Politiker liegt ein schwieriges Jahr mit vielen Rückschlägen. Zwar konnte die Armee mit Hilfe schiitischer Milizen die Stadt Tikrit aus der Gewalt des IS befreien. Zugleich aber verlor sie Ramadi im Mai an die Extremisten - nach dem Verlust Mossuls vor mehr als einem Jahr eine weitere Schmach für das Militär und die Regierung.
Politisch steht der Ministerpräsident massiv unter Druck. Al-Abadi ging in den vergangenen Monaten mehrere Reformen an, mit denen er Korruption und Vetternwirtschaft bekämpfen will. Sie gelten als Grund dafür, dass die irakische Armee beim IS-Ansturm im Sommer 2014 wehrlos zusammenbrach. So verringerte Al-Abadi die Zahl der Posten im Kabinett deutlich. Eine neue Kommission soll künftig Schmiergeldvorwürfen gegen Regierungsbeamte nachgehen. Auch die Sicherheitsstrukturen will Al-Abadi umbauen, weshalb er zahlreiche Offiziere in Armee und Polizei feuerte.
Doch gegen die Reformen regt sich massiver Widerstand, vor allem unter schiitischen Politikern und Milizen, die um ihren Einfluss fürchten. Politisch und militärisch sind die eng mit dem Iran verbundenen Milizen längst einer der wichtigsten Akteure im Land. Sie werden zwar von der Regierung bezahlt, entziehen sich aber weitestgehend ihrem Einfluss. Die Milizen machten massiv Stimmung gegen Al-Abadis Plan, Nationalgarden in den irakischen Provinzen zu schaffen, weil damit die sunnitischen Kräfte gestärkt worden wären.
Zu Al-Abadis Erzfeinden gehört ausgerechnet ein Parteifreund: sein Vorgänger Nuri al-Maliki. Vor allem ihn machen viele Beobachter dafür verantwortlich, dass die von Schiiten dominierte Regierung über Jahre Sunniten diskriminierte und somit dem Vormarsch des IS den Boden bereitete. Al-Abadi setzte durch, dass die Posten der drei Vize-Präsidenten abgeschafft wurden, wodurch Al-Maliki sein höchstes Amt verlor. Dieser aber ignoriert die Entscheidung einfach und unterzeichnet Briefe weiterhin als Stellvertreter des Staatschefs.
Viele sehen Al-Maliki als Symbol für das neben der Korruption größte Übel im Irak: das tiefe Misstrauen zwischen den beiden großen Konfessionen. Die Minderheit der Sunniten fühlt sich durch die Mehrheit der Schiiten diskriminiert. Einem Ausgleich zwischen ihnen ist der Irak in dem Machtgerangel nicht näher gekommen, dabei gilt er als Voraussetzung dafür, um den IS besiegen zu können. Die Extremisten profitieren von den tiefen politischen Gräben.
Aus welchen europäischen Ländern radikale Islamisten kommen
Das "International Centre for Study of Radicalisation and Political Violence" (ICSR) hat in Kooperation mit der Münchener Sicherheitskonferenz für 50 Länder ausgewertet, wie viele Bürger aus den jeweiligen Staaten nach Syrien oder in den Irak gezogen sind, um sich militanten Gruppen anzuschließen. Die Daten für die einzelnen Länder beziehen sich auf die zweite Hälfte des Jahres 2014. Aus Westeuropa – so wird geschätzt – sind mittlerweile 4000 Kämpfer vor Ort. Ende 2013 waren es nicht einmal halb so viele. Geordnet werden die Länder nach der Anzahl der Kämpfer pro eine Million Einwohner.
Circa 80 Kämpfer im Irak und in Syrien stammen aus Italien. Das macht 1,5 Kämpfer pro eine Million Einwohner.
Zwischen 50 und 100 Spanier haben sich militanten Gruppen angeschlossen. Auf eine Million Einwohner kommen damit rund zwei Kämpfer.
Das ICSR schätzt die Zahl der Schweizer Kämpfer auf 40. Damit sind fünf Schweizer pro eine Million Einwohner nach Syrien oder in den Irak gezogen.
Aus Irland stammen rund 30 Kämpfer. Das entspricht sieben pro eine Million Iren, die sich militanten Gruppen angeschlossen haben.
Aus Deutschland kommen 500 bis 600 Menschen, die in Syrien und im Irak kämpfen. Damit gehört das Land zu der Gruppe europäischer Länder, aus denen insgesamt die meisten stammen. Pro eine Million Einwohner macht das 7,5.
Die gleiche Zahl an Kämpfern, 500 bis 600, stammt aus Großbritannien. Auf die Zahl der Einwohner heruntergerechnet sind es 9,5 pro eine Million.
60 Menschen, die im Irak oder in Syrien kämpfen, kommen aus Norwegen. Auf eine Million Einwohner heruntergerechnet, sind das zwölf Kämpfer.
Für Finnland schätzt das ICSR die Zahl derer, die nach Syrien oder in den Irak gezogen sind, auf 50 bis 70. Das entspricht 13 Kämpfern pro eine Million Einwohner.
Die Zahl der Niederländer, die in den Krieg gezogen sind, liegt zwischen 200 und 250. Heruntergerechnet auf eine Million Einwohner sind das 14,5 Kämpfer.
Aus Österreich ziehen zwischen 100 und 150 Radikale nach Syrien oder in den Irak. Pro eine Million Einwohner sind das 17.
1200 Kämpfer im Irak und in Syrien stammen aus Frankreich. Damit kommen die meisten Europäer dort aus Frankreich. Weltweit kommen nur aus Jordanien, Marokko, Saudi-Arabien und Tunesien mehr. Auf eine Million Einwohner heruntergerechnet macht das 18.
Zwischen 150 und 180 Schweden kämpfen als Extremisten. Pro eine Million Einwohner sind das 19.
Dänemark gehört zu den Ländern mit einem der größten Probleme, was radikale Islamisten angeht. Zwischen 100 und 150 Dänen sind nach Syrien oder in den Irak gezogen, um zu kämpfen. Das entspricht 27 Kämpfern pro eine Million Einwohner.
Pro eine Million Einwohner in Belgien sind 40 in den Irak oder nach Syrien gezogen. Insgesamt sind es 440.
Der Rückgang des Ölpreises macht dem Land zusätzlich schwer zu schaffen, schließlich speist sich der irakische Haushalt fast vollständig aus dem Verkauf des Rohstoffs. „Vor Al-Abadi liegt im nächsten Jahr keine einfache Aufgabe, weil das Bündel an Problemen so riesig ist“, sagt der irakische Analyst Ahmed al-Samrai. Das Land nehme derzeit eine „gefährliche Wende“. Schon seit längerem kursieren Gerüchte, Al-Abadis Gegner wollten ihn stürzen.
So dürften 2016 entscheidende Weichen für das Land gestellt werden. Ein Sieg in Ramadi würde dem Regierungschef den Rücken stärken. Sollte die Armee die Stadt befreien, will sich Al-Abadi der nächsten großen Aufgabe zuwenden: der Eroberung Mossuls. Dann erst wird sich das Schicksal der Terrormiliz im Irak entscheiden. Dem Land droht eine lange und blutige Schlacht. Der Kampf um Ramadi läuft schon seit Monaten - dabei ist die Stadt mit einst rund 300 000 Einwohnern deutlich kleiner als die Millionenmetropole Mossul.