30 Jahre nach Tschernobyl Russlands strahlende Zukunft

Die Hälfte des ukrainischen Strombedarfs wird 30 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl durch Atommeiler gedeckt, doch die Menschen trauen den alternden Kraftwerken nicht. Sorgen, die man in Russland nicht kennt. Im Gegenteil.

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30 Jahre nach der Katastrophe in dem sowjetischen Atomkraftwerk setzt Russland voll auf Atomenergie. Quelle: dpa

Moskau Vor dem Kulturpalast im ukrainischen Prypjat wuchern Bäume und Sträucher durch den bröckligen Asphalt. Riesenrad und Karussells auf dem Rummelplatz rosten vor sich hin. Der Wind pfeift durch die Straßen. Ansonsten: Stille in der Geisterstadt.

Einst lebten in den Plattenbauten fast 50.000 zumeist junge Menschen. dann mussten sie Hals über Kopf die Stadt verlassen: Am 27. April 1986 wurde die gesamte Bevölkerung innerhalb von zwei Stunden evakuiert – 36 Stunden nach der Kernreaktorunglück in Tschernobyl, rund vier Kilometer von der Stadt entfernt.

Seither erobert die Natur Prypjat Schritt für Schritt zurück. Wilde Przewalski-Pferde galoppieren häufiger durch die Stadt als Extremtouristen, die den besonderen Kick in der nach wie vor verstrahlten 30-Kilometer-Sperrzone suchen.

Die meisten Bewohner von Prypjat leben heute in Slawutytsch, einer vor 30 Jahren nach dem Reaktorunglück neugebauten Stadt keine 50 Kilometer weiter östlich am Dnepr-Ufer. Bis zum Jahr 2000 arbeiteten viele von ihnen weiterhin im Kernkraftwerk Tschernobyl, ehe es vor 15 Jahren endgültig stillgelegt wurde. Heute ist nur noch ein Bruchteil der einstigen Mannschaft mit Überwachungs- und Wartungsarbeiten beschäftigt.

Doch Tschernobyl ist nicht das einzige Atomkraftwerk (AKW) in der Ukraine: Aktuell werden von der staatlichen Energoatom vier AKW mit einer Gesamtleistung von über 13.000 Megawatt betrieben. Damit tragen die Kernkraftwerke rund 50 Prozent zur Stromversorgung des Landes bei. Alle Kraftwerke stammen noch aus sowjetischer Zeit, allerdings wurden nach einem 1990 vom ukrainischen Parlament verhängten Moratorium später weitere Blöcke fertiggestellt – auch mit Hilfe der EU.

Besonders groß ist das Vertrauen der Ukrainer in die Sicherheit der Anlagen nicht. 2011, als es in Japan zur Nuklearkatastrophe von Fukushima kam, erklärten in einer Umfrage 65 Prozent der Ukrainer, dass die heimischen Reaktoren nicht sicher seien. 2014 erhielt Energoatom von der EU 600 Millionen Euro für die Erhöhung der Sicherheit seiner Kraftwerke.

Und doch geriet auch jüngst wieder ein ukrainisches AKW nach einem Störfall in die Schlagzeilen. Nach einem Kurzschluss in der Transformatoranlage des AKW Saporoschje musste ein Block plötzlich heruntergefahren werden. Strahlung trat dabei glücklicherweise nicht aus, allerdings führte die Abschaltung zu einem Blackout in größeren Landesteilen.

Aufgrund der wirtschaftlichen Probleme will die ukrainische Regierung die Laufzeiten der bestehenden Reaktoren verlängern. Alle Pläne für den Neubau von AKW sind hingegen eingefroren, auch wegen der Spannungen mit Russland, die als Partner bei mehreren Projekten galten.


Putin will 28 neue Atomreaktoren

Geht es bei den Ukrainern vor allen Dingen ums Konservieren der Altbestände, ist das russische Atomprogramm deutlich ambitionierter. 28 neue Atomreaktoren will Wladimir Putin in den nächsten Jahren bauen. Derzeit sind 35 Reaktorblöcke (in zehn AKW) mit einer Leistung von weit über 25.000 Megawatt in Betrieb. Der Anteil der Kernenergie am Gesamthaushalt soll durch die Expansion trotz Russlands Öl- und Gasreichtum auf 20 bis 30 Prozent steigen. Zuletzt lag der Indikator bei immerhin schon 18 Prozent.

Bereits in diesem Sommer könnte nach mehrfacher Verzögerung das Kernkraftwerk Nowoworonesch-2 am Don in Betrieb gehen. Es soll das alte AKW Nowoworonesch ersetzen, das bereits seit 1958 am Netz ist.

Ärger gibt es hingegen um das AKW Kaliningrad. Der Bau wurde 2014 eingefroren und wird nach Angaben des Energieministeriums wegen „veränderter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen“ auf absehbare Zeit nicht wieder aufgenommen. Russland hatte mit dem AKW nicht nur die Selbstversorgung der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad, sondern auch den Stromexport nach Polen, Litauen und sogar Deutschland geplant. Bei den Nachbarn ist das Projekt allerdings umstritten, die politischen Differenzen infolge der Ukraine-Krise dürften endgültig alle Exportpläne begraben haben.

Dabei ist Russland durchaus erfolgreich beim Export seiner Atomindustrie: Meiler russischer Bauart sind so in den vergangenen Jahren unter anderem in China, Indien und – trotz der internationalen Sanktionen – auch in Iran entstanden. Nach der Fertigstellung des AKW Bushehr hofft die russische Atombehörde RosAtom auf Folgeaufträge. Allein die Atomkooperation mit den Mullahs soll Moskau rund acht Milliarden Dollar einbringen.

Russland setzt dabei nicht nur auf herkömmliche Kraftwerke, sondern experimentiert derzeit sogar mit einem schwimmenden AKW. Der 2018 erwartete Prototyp „Akademiker Lomonossow“ ist zwar mit einer verhältnismäßig geringen Leistung (35 Megawatt) konzipiert worden, soll aber aufgrund seiner Mobilität im küstennahen Bereich flexibel einsetzbar sein – und dann auch zum Exportschlager werden.

Während russische Ökologen den warnenden Zeigefinger heben, wischt die russische Führung Sicherheitsbedenken konsequent beiseite. Während so alle Welt 2011 nach Fukushima über den Ausstieg aus der Kernenergie nachdachte, erklärte Putin unerschüttert, dass russische AKW sicher seien und unterzeichnete prompt ein Abkommen über den Bau eines Kraftwerks im benachbarten Weißrussland – mit russischer Technologie und russischen Krediten.

Für Weißrussland, das von der Tschernobyl-Katastrophe besonders geschädigt ist, wird der Bau nahe der Stadt Ostrowetz das erste AKW im Land. 2018 soll nach jüngsten Planungen der erste Block in Betrieb gehen, 2020 der zweite. Wird das Experiment als erfolgreich eingestuft, ist ein weiterer Ausbau der Kernenergie im rohstoffarmen Weißrussland möglich.

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