32 Jahre in Athen Mein Leben mit den Papandreous

Seit 1979 berichtet Gerd Höhler für das Handelsblatt aus Athen. Er hat viele Regierungschefs erlebt - auch den Vater des jetzigen Premiers. Der trug zu dem Schuldendesaster bei, an dem sein Sohn jetzt zu scheitern droht.

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Gerd Höhler ist Handelsblatt-Korrespondent in Athen. Quelle: Nikos Pilos für Handelsblatt

Athen Auch Angelos hat jetzt aufgegeben. „Enoikiazete“, zu vermieten, steht an dem Schaufenster seines kleinen Ladens in der Athener Skoufa-Straße. Genauso die Modeboutique, der Uhrenladen gegenüber, die Schuhmacherei an der Ecke: alles geschlossen. Die Skoufa im Stadtteil Kolonaki, das war „meine Straße“, als ich im Frühjahr 1979 als Korrespondent nach Athen kam. Hier bezog ich mein erstes Büro, Skoufa 24a, 6. Stock. Das kleine Penthouse, gerade mal 30 Quadratmeter, war ein Volltreffer: von meinem Schreibtisch aus konnte ich auf die Akropolis sehen.

Angelos war „mein Elektriker“. Er legte nicht nur die Leitung für den Telex-Anschluss. Er hatte auch einen direkten Draht zur Fernmeldebehörde OTE. So musste ich, gegen ein nicht zu knappes Trinkgeld, nur zwei Wochen und nicht die üblichen drei Monate auf den Anschluss warten. Von Angelos und OTE lernte ich, dass die Sprache mehr Rückschlüsse auf die Zustände in einem Land zulässt, als man so annimmt: Das erste Wort, das ich lernte war: „Messo“. Es sollte mir fortan häufiger begegnen. „In Griechenland brauchst Du ein ‚messo’“, erklärte Angelos mir. „Messo“ bedeutet Mittel. Gemeint sind Beziehungen, auch finanzieller Natur, ohne die in Griechenland nichts lief.

Das Messo zeigte mir nicht nur, wie die griechische Gesellschaft funktioniert. Anhand des „Messo“ und der OTE habe ich auch gelernt, warum es so schwer ist, trotz guter Vorhaben und Reformpläne eine Gesellschaft zu verändern. Auf dem Papier ist die OTE längst ein privatisiertes Unternehmen, gehört der Deutschen Telekom. Im echten Leben als Kunde, ist es aber immer noch gut, ein „Messo“ dabeizuhaben, wenn man von OTE Hilfe benötigt. Die Begriffe ändern sich, die Eigenschaften bleiben. Das ist sinnbildlich für das ganze Land.

Und dennoch: Wer über Griechenland urteilt, der muss nicht drei Jahrzehnte hier gelebt haben; der muss aber schauen, wo dieses Griechenland stand, als ich hier 1979 eintraf. Dann sieht er ein Land, geschunden von der Militärdiktatur, das zu einer lebhaften Demokratie wurde. Er sieht natürlich auch Korruption und Betrug. Aber ohne den Blick auf das erste, darf der Betrachter sich kein Urteil über das zweite erlauben.

Als ich 1979 in Athen landete, stand ich gemeinsam mit diesem Land auf der Schwelle in einen neuen Lebensabschnitt. Aufbruch, Neugier, der Durst nach Freiheit – das war uns beiden gleich in diesem Jahr, in dem Griechenland die Fesseln der Vergangenheit zu sprengen scheint. Der Beitritt des Landes zur Europäischen Gemeinschaft war gerade besiegelt – gegen den Widerspruch der Brüsseler Kommission: Zu groß sei das wirtschaftliche Gefälle zwischen Griechenland und dem Kern Europas, warnte sie.

Im Franzosen Giscard d’Estaing und im deutschen Helmut Schmidt aber fanden die Griechen auf europäischer Seite Politiker, die zugunsten der Vision eines einheitlichen Europas bereit waren, über die Probleme in der Gegenwart hinwegzusehen. Sie gaben, getrieben von der Überzeugung, dass dieser Kontinent vereint stärker ist als seine Einzelteile, und dass Griechenland zu diesem vereinten Europa gehörte, grünes Licht für den EG-Beitritt.


1981 war ein Schicksalsjahr für Griechenland

Am 28. Mai 1979 unterzeichneten Europas Regierungschefs die Beitrittsverträge in Athen. Premier Konstantin Karamanlis hatte wenige Tage vor der Anreise der Staatsgäste noch in Tag- und Nachtarbeit die Syngrou-Avenue, die vom Flughafen Ellinikon ins Stadtzentrum führt, asphaltieren lassen - mit eigenen Geldern. Es war wohl das letzte Infrastrukturprojekt, das Griechenland ohne europäische Fördermittel umgesetzt hat.

Griechenland und Europa, sie waren nun wieder eins. Auf dem Papier. Wenn ich, der Neuling, aber mit meinen Nachbarn über dieses Europa sprach, dann schlug mir Fremde entgegen. „Ich fahre nach Europa“, sagten die Griechen damals, selbst wenn die Reise nur über die Adria ins benachbarte Italien führte. Griechenland lag nicht nur geographisch an der Peripherie Europas. Die Griechen fühlten sich mental ausgegrenzt.

Das aber wurde besser. Je länger ich hier lebe, desto europäischer wurde dieses Land. Die Griechen haben die Vorteile Europas kennengelernt. Sie haben sie schätzen gelernt. Europa hat ihnen das aber auch leicht gemacht. Es hat sich diese Freundschaft erkauft. Mit 46,5 Milliarden Euro. So hoch waren die EU-Fördermittel zwischen 1986 und 2006.

Und doch erklärt diese Zahl nur zum Teil, warum die EU bei den Hellenen hoch im Kurs steht. In kaum einem Land ist die Zustimmung zur politischen Union so groß, stehen die EU-Institutionen in so hohem Ansehen wie hier. Auch deshalb reagieren viele Menschen jetzt mit Verbitterung, wenn europäische Politiker offen darüber beratschlagen, wie man Griechenland am besten aus der Euro-Zone hinauskomplimentieren könne.

Die Aufnahme Griechenlands in die EG: manche meinen, das sei der Sündenfall gewesen. Jedenfalls war 1981 in zweifacher Hinsicht ein Schicksalsjahr für Griechenland. Denn im Oktober jenes Jahres wählten die Griechen den Linkspopulisten Andreas Papandreou zum Ministerpräsidenten - den Vater des heutigen Premiers. Im Wahlkampf hatte er ihnen den „Großen Wandel“ versprochen. Ich erinnere mich gut an diesen Wahlkampf, die Massenkundgebungen, bei denen Hunderttausende jubelnde Menschen zusammenströmten.

Das mit dem „großen Wandel“ aber, lernte ich, müsse man nicht so ernst nehmen, wie mir Karolos Papoulias schon in den Monaten vor der Wahl versicherte. Der in Köln ausgebildete Jurist war in der Pasok für Außenpolitik zuständig. Papandreou berief ihn zum Vize-Außenminister. Wenige Wochen nach seinem Amtsantritt rief mich Papoulias an und verabredete ein Abendessen. Ich traf ihn in seinem Büro. Es war schon spät, die Sekretärinnen waren längst gegangen. Papoulias sah noch rasch einige Akten durch, dann wollten wir aufbrechen. Aber sein Fahrer war verschwunden. Papoulias rief, er telefonierte, lief suchend durch die Flure, aber der Mann blieb unauffindbar. „Das ist der Sozialismus“, scherzte Papoulias. Wir gingen zu Fuß zum Essen. Damals duzte ich ihn. Inzwischen bin ich zum „Sie“ zurückgekehrt: seit 2005 ist Karolos Papoulias Staatspräsident.


Papandreou Senior stellte die Weichen ins Schuldendesaster

Den ganz großen Wandel blieb Andreas Papandreou seinen Anhängern schuldig. Aber dafür entschädigte er sie mit sozialen Wohltaten: Zehntausende schleuste er in den öffentlichen Dienst. Papandreou erhöhte die Renten und die Gehälter der Staatsbediensteten. Überschuldete Firmen verstaatlichte er. So stellte der Harvard-Ökonom Papandreou die Weichen ins Schuldendesaster. Staatsschulden von 34,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts übernahm er 1981. Als er 1989 abgewählt wurde, hatten sie fast 70 Prozent erreicht. Dass nun Giorgos Papandreou mit den Folgen dieser Politik konfrontiert ist, kann man als eine bittere Ironie der Geschichte betrachten.

Von allen neun Ministerpräsidenten, die ich in meinen 32 Griechenland-Jahren erlebt habe, war Andreas Papandreou übrigens der einzige, der mir nie ein Interview gegeben hat. Warum? „Deine Berichterstattung war uns zu kritisch“, gestand mir ein enger Papandreou-Berater viele Jahre später.

Wie anders war da Konstantin Karamanlis gewesen, der bei meiner Ankunft als Regierungschef amtierte, um 1980 ins Präsidentenamt zu wechseln. Oder Kostas Simitis, jener Reformer, der in seinen acht Regierungsjahren Griechenland prägte wie kaum jemand zuvor, und die Griechen in die Währungsunion führte.

Unstrittig ist, dass Simitis seinen Landsleuten ein hartes Konsolidierungsprogramm zumutete, um das Land für den Euro zu qualifizieren. Es war allerdings damals auch ein offenes Geheimnis, dass von einer nachhaltigen Konvergenz in Griechenland keine Rede sein konnte. Aber das galt auch für Italien. Wer den Griechen den Beitritt zu Währungsunion verwehrte, hätte auch Italien nicht aufnehmen dürfen.

So verbrachte ich den Jahreswechsel 2002 im obersten Stock der Bank of Greece. Dort hatten sich Politiker, Banker und Unternehmer versammelt. Als um Mitternacht die Feuerwerksraketen über der Akropolis in den Himmel schossen, ging Simitis zu einem eigens im Festsaal der Notenbank aufgestellten Geldautomaten. Er tippte die Geheimzahl 1-2-3-4 ein, zog die ersten Euro-Banknoten aus der Maschine und hielt sie in die Höhe.

Griechenland zu Beginn des Jahrzehnts war auch für den Korrespondenten, der mit kühlem Kopf und dennoch heißem Herzen auf die Dinge im Land schaut, ein Land der Euphorie. Auf den Euro-Beitritt folgt die Fußball-Europameisterschaft 2004. Es war die Zeit, als Otto „Rehakles“ Rehagel die Griechen zum Titel führte - und dafür sorgte, dass die Deutschen in dem Land auf einer Euphoriewelle schwammen, die später schnell abebben sollte. Wenige Wochen später begannen die Olympischen Spiele.


Plötzlich röhrten Ferraris über die Autobahn

2004 war das Jahr der Griechen. Aber es war auch ein Jahr des politischen Wandels: im Frühjahr servierten die griechischen Wähler den Reformer Simitis ab. Euro, Fußball, Olympia – die Griechen, dachten viele Griechen, waren jetzt wer in der Welt. Wer brauchte da einen kleinkarierten Reformer, einen unbequemen Politiker, der nicht zulassen wollte, dass sie sich auf ihren Erfolgen ausruhten?

Und so wählten die Griechen 2004 den konservativen Populisten Kostas Karamanlis. Sie waren entschlossen, die neue Währung zu genießen. Der Euro ermöglichte ihnen mit ungeahnter Preisstabilität und nie gekannt billigen Krediten einen Wohlstand, den sie sich mit der Drachme niemals hätten leisten können.

Nicht nur in Prominentenvierteln wie Kolonaki oder Kifissia sondern auch auf den Dörfern begegneten mir schwere Geländewagen, röhrten auf der Autobahn Ferraris an mir vorbei. Volk und Politiker verführten sich gegenseitig. Dank niedriger Zinsen und einer anfangs erstklassigen Bonität häufte Karamanlis immer mehr Verbindlichkeiten auf.

Es war ein Schein, der viel zu schön schien, um Sein werden zu können. Und das lag auch an Politikern aus dem Westen, denen ich während ihrer Besuche begegnete. Ich sah, wie Angela Merkel im Jahr 2007 Athen besuchte. Merkel, die Regierungschefin meines Heimatlandes, das - während ich den Griechen bei ihrer langsamen Ankunft in der finanzpolitischen Realität zuschaute – zum Exportweltmeister aufgestiegen war. Es war jene Merkel, die schon vor dem Besuch wusste, dass Griechenland sich finanziell übernommen hatte, und ihren Kollegen Karamanlis dennoch drängte, eine milliardenteure Eurofighter-Bestellung zu unterschreiben.

Jede Tragödie lässt sich von zwei Seiten betrachten.


Papandreou Junior ist ein Teil des Problems

Nun droht also auch Giorgos Papandreou an der Aufgabe zu scheitern, das Land aus der Schuldenfalle befreien. Auf Papandreou jun. ruhten anfangs viele Hoffnungen, als er im Oktober 2009 sein Amt als Premier antrat. Tatsächlich ist Papandreou alles andere als ein typischer griechischer Politiker. Geboren im US-Bundesstaat Minnesota, Schuljahre in Nordamerika und Schweden, Studien am Amherst College und der London School of Economics: schon der junge Papandreou war ein Weltbürger – und ein Linker. „Entweder wir ändern uns, oder wir gehen unter“, sagt er. Doch an Tagen, wenn Streiks dafür sorgen, dass mein Weg ins Büro ins unendliche ausfasert, Proteste aufflammen, scheint es, als hätten sich die Griechen für den Untergang entschieden.

Papandreou gehört zu einer der drei Polit-Dynastien, die sich seit Jahrzehnten an der Macht ablösen. Hier liegt eine Wurzel der Schuldenkrise, die in Wirklichkeit eine Krise des politischen Systems ist. Als Sohn von Andreas Papandreou sehe ich den gegenwärtigen Premier als Teil des Problems. Er selbst sah sich bisher eher als Teil der Lösung.

Inzwischen ist jedoch offensichtlich: er und seine Partei sind mit der Bewältigung der Krise überfordert. Viel mehr als immer neue Steuererhöhungen, die das Land nur noch tiefer in die Rezession treiben, fällt Papandreou nicht mehr ein. Für die notwendigen Strukturreformen, die Griechenland zum Wachstum zurückführen könnten, hat er nicht die Kraft, vielleicht auch nicht den politischen Willen.

Die Krise auch Papandreou verändert, tiefe Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Dieses Gesicht, es steht für viel mehr, als den Alterungsprozess eines Hoffnungsträgers – es steht für ein ganzes Land. Tiefe Furchen haben sich in die griechische Seele gegraben. Die Krise hat aus meinen Griechen ein niedergeschlagenes, verzagtes Volk gemacht.

Vor Kurzem stand ich vor der Bank von Griechenland und wartete auf ein Interview mit Lucas Papademos, dem früheren Vizepräsidenten der Europäischen Zentralbank, der jetzt als Chef einer möglichen Übergangsregierung im Gespräch ist. Ein Passant blieb stehen und starrte mich an. Ich trug einen Anzug, vielleicht hielt er mich für einen Banker. „Telíose“, sagte der Mann, was so viel heißt wie: „es ist alles zu Ende“. Er war Ende 30, hatte schütteres Haar. Seine Kleidung wirkte abgetragen. Angst sprach aus seinem Blick. „Was meinen Sie?“, fragte ich zurück. „Wisst Ihr es denn noch nicht?“, sagte er. „Vorbei, es ist vorbei - Ende!“ Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

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