
Majete Es ist ein Gesicht, in das sich Furcht, Trauer und Hunger eingegraben haben. Hunderte feine Falten ziehen sich vom ergrauten Haaransatz bis zum spitzen Kinn. Die Augen matt, die Stimme zittrig. Die Frau gibt an, sie sei 38 Jahre alt. Ist sie wirklich so jung? Wenn Mame Tilahun von der großen Dürre Mitte der 80er Jahre spricht, begreift man, was sie mitgemacht hat, man versteht warum sie so viel älter aussieht als sie tatsächlich ist. „Die Männer waren damals so schwach vom Hunger und Durst, dass sie keine Särge für die Toten zimmern konnten“, sagt Mame. „Wir legten die Leichen am Wegesrand ab.“
Die Mutter von vier Kindern hockt auf einem Stein vor ihrer Hütte im äthiopischen Antsokia-Tal, rund 350 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Addis Abeba. Sie wedelt mit der flachen Hand vor dem Gesicht. „Während der Hungersnot konnten viele Frauen ihre Kinder nicht stillen, sie hatten keine Milch.“ Die Trockenheit raffte in ihrem Dorf Dutzende Menschen hin: ihren Ehemann, ihren Vater, drei Brüder und zwei Onkel traf es auch. Heute kommt Mame die Hungersnot wie ein böser Traum aus vergangener Zeit vor. Heute geht es der Bäuerin gut. Sie kann ihre Kinder und sich ernähren, hat sogar etwas Geld gespart.
Mame und die anderen rund 90.000 Bewohner des rund 140 Kilometer langen Antsokia-Tals Tals haben eine wirtschaftliche und soziale Erfolgsgeschichte geschrieben. Es ist eine Geschichte, die in dem autoritär regierten und bitterarmen Äthiopien sowie in ganz Ostafrika als beispielhaft gelten könnte.
Während in Somalia und den angrenzenden Gebieten eine Dürre noch immer das Leben von Millionen Menschen bedroht, gedeihen im Antsokia-Tal Bananen, Avocados, Mangos, Äpfel, Kaffee, Mais und Weizen. „Unsere Bauern ernten sogar so viel, dass sie ihre überschüssigen Produkte auf den Märkten von Addis Abeba verkaufen“, sagt Demess Kebede, der staatliche Verwaltungsdirektor der Region. Kebede gehört der Partei des Premierministers Meles Zenawi an – Zenawi herrscht seit zwei Jahrzehnten autoritär über Äthiopien.
Wie schafften es die Menschen aus einer Ödlandschaft einem der am wenigsten entwickelten Staaten Afrikas eine Vorzeigeregion zu verwandeln?
Die Erfolgsgeschichte des Antsokia-Tals begann mit einer Katastrophe: Mitte der 80er-Jahre suchte eine Trockenheit weite Teile Äthiopiens heim, die Ernten verdorrten, das Vieh verdurstete, Zehntausende Menschen starben. Auch das Antsokia-Tal wurde zur Todeszone. Der kommunistische Militärdiktator Mengistu Haile Mariam akzeptierte nur widerwillig Lebensmittel aus dem Ausland.
Nachhaltiges Entwicklungskonzept hat gefruchtet
World Vision war eine der wenigen fremden Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, die den Hungernden beistehen durften - und die noch heute im Land sind. Andere Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie Amnesty International, die für politische Rechte kämpfen, müssen laut dem NGO-Gesetz der Regierung Zenawi ihre Arbeit einstellen.
„Während des großen Hungers vor mehr als 25 Jahren erkannten wir schnell, dass reine Nothilfe mit fertigen Lebensmittelrationen den Menschen langfristig nichts nutzt“, erklärt der Direktor von World Vision im Antsokia-Tal, Mekonnen Fitwe. Der 35-jährige sitzt auf der Hinterbank eines weißen Toyota-Landcruisers. Links und rechts der holprigen Fahrbahn erstrecken sich kilometerlang Felder, kleine Fruchtplantagen und Weideland, Landarbeiter hacken und schaufeln.
World Vision erarbeitete mit den Bewohnern des Tals ein nachhaltiges landwirtschaftliches Entwicklungskonzept: Tausende Bäume wurden gepflanzt, Terrassen angelegt. So stoppte man die Bodenerosion. Aus den Flüssen zweigte man Wasser für die Felder ab. Mitte der 80er waren Jahre im Tal nur rund 90 Hektar bewässert, heute fließt das kostbare Nass durch ein ausgeklügeltes Kanalsystem auf rund 7500 Hektar Acker- und Weideland.
Gleichzeitig schulten Agrarexperten die Menschen im Tal: Wie soll man Schädlinge bekämpfen? Was sind die ertragreichsten Früchte? Wo verkaufe ich meine Ernte am besten? Die Entwicklungshelfer bauten auch Straßen, Schulen und Krankenhäuser. In den vergangenen 25 Jahren flossen mehrere Millionen US-Dollar in das Tal – eine Investition, die sich auszahlt.
Der Toyota stoppt. Die aufgewirbelte Staubwolke verliert sich. Rund 400 Meter von der Piste entfernt sprießen Bananenstauden. „Ich habe früh gelernt, dass eine Genossenschaft gut für mich und meine Familie ist“, erläutert der Bananenfarmer Destaw Beleten. Der 49-jährige Vater von acht Kindern steht im Schatten einer Staude, zeigt auf sein mehrere Hektar weites Land. „Die Genossenschaft nimmt meine Ernte zu einem festen Preis ab, dann brauche ich mich nicht um den Verkauf zu kümmern“, sagt er. Dann zückt Destaw eine Machete und macht sich wieder an die Arbeit.
Doch auch das Antsokia-Tal kann sich von den globalen Entwicklungen nicht abkoppeln. Seit Monaten steigen die Preise für Saatgut und Futter. Viele Bauern stöhnen unter der Inflation. Auch der Klimawandel bedroht das Erfolgsmodell. „Die Regenzeit setzte in den letzten Jahren erst im Juli ein, nicht wie üblich im Juni“, erinnert sich Mekonnen Fitwe von World Vision. „Der Regen macht was er will.“
Fitwe schaut aus dem Fenster des Geländewagens und winkt den Bauern auf dem Feld. Dann senkt der Entwicklungshelfer seinen Kopf. „Die unregelmäßigen Niederschläge verunsichern die Menschen in unserem Tal, sie haben Angst vor einer neuen langen Trockenheit.“