Afghanistan Taliban geben Warnschüsse wegen Menschenmenge am Kabuler Flughafen ab

In der Stadt Dschalalabad kam es am Mittwoch zu Anti-Taliban-Protesten Quelle: via REUTERS

Am Kabuler Flughafen haben die Taliban offenbar Warnschüsse abgegeben. In Dschalalabad sollen sie Protestierende getötet haben.

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Taliban-Kämpfer haben in Kabul nach Angaben der Islamisten Warnschüsse in die Luft gefeuert, um eine Menschenmenge am Flughafen der afghanischen Hauptstadt auseinanderzutreiben. „Wir haben nicht die Absicht, jemanden zu verletzen,“ sagte ein Taliban-Vertreter. Das massive Chaos vor dem Flughafen dauere an. Verantwortlich dafür sei der „chaotische Evakuierungsplan“ der westlichen Streitkräfte.

In der afghanischen Stadt Dschalalabad sind am Mittwoch mindestens drei Menschen getötet und mehr als ein Dutzend verletzt worden. Das berichteten zwei Augenzeugen und ein früherer Polizeivertreter der Nachrichtenagentur Reuters. Die Taliban hätten das Feuer eröffnet, als Einwohner der Stadt bei Anti-Taliban-Protesten auf einem Platz versuchten, die Landesflagge zu hissen. Die radikal-islamische Organisation hat versprochen, nach der Machtübernahme im Land an Frieden interessiert zu sein. Zahlreiche Menschen fürchten aber ihre Rache. Westliche Länder flogen deswegen Tausende Menschen aus.

Die Taliban in Dschalalabad - 150 Kilometer östlich der Hauptstadt Kabul - sprachen von einigen Unruhestiftern. Im Umfeld der Miliz hieß es, es habe einen Toten gegeben. Ein früherer Polizeivertreter sagte, es gebe vier Tote und 13 Verletzte. Es war nicht möglich, die Angaben zu den Toten zu überprüfen. Der vor den Taliban geflohene Präsident Ashraf Ghani hält sich unterdessen samt Familie in den Vereinigten Arabischen Emiraten auf. Das bestätigte das Außenministerium des Golfstaates.

Angesichts dieser Lage wollen die Staats- und Regierungschefs der G7 wichtiger Industriestaaten in der kommenden Woche bei einer Videokonferenz über das weitere Vorgehen beraten. Für diesen Freitag setzte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg eine Videokonferenz der Außenminister aller Bündnis-Staaten an.

Mit Mullah Abdul Ghani Baradar kehrte erstmals seit Jahren einer der Taliban-Mitbegründer nach Afghanistan zurück. Die Taliban erklärten, die Führung werde sich anders als in der Vergangenheit der Welt zeigen. Ein Taliban-Vertreter erklärte zudem, man habe sich mit Ex-Präsident Hamid Karsai zu Gesprächen getroffen. Auch das ranghohe Mitglied der bisherigen Regierung, Abdullah Abdullah, sei dabei gewesen. Details zu den Gesprächen blieben offen. Es sei noch zu früh zu sagen, ob in den Reihen der neuen Taliban-Regierung auch Mitglieder früherer Regierungen sein würden, hieß es. Karsai war von 2001 bis 2014 afghanischer Präsident.

Bei der ersten Pressekonferenz der Taliban seit der Machtübernahme hatte sich der Sprecher der Islamisten am Dienstag versöhnlich gegeben. „Wir wollen keinen Konflikt, keinen erneuten Krieg, und wir wollen die Konfliktfaktoren beseitigen“, sagte Sabihullah Mudschahid in Kabul. Man wolle weder „innere noch äußere Feinde“ haben. Die Rechte von Frauen würden respektiert, sie dürften arbeiten, studieren und aktiv an der Gesellschaft teilnehmen - „aber innerhalb des Rahmens des Islam“. Mudschahid versprach, dass Soldaten, Polizisten sowie Übersetzer und andere ehemalige Mitarbeiter des Westens nicht verfolgt würden: „Niemand wird ihnen etwas antun. Niemand wird an ihre Tür klopfen.“

Daran hegen aber viele Afghanen Zweifel und wollen das Land möglichst schnell verlassen. Großbritanniens Premierminister Boris Johnson sagte, man werde die Taliban an ihren Taten messen, nicht an ihren Worten. Ihre Einstellung zu Terrorismus, Verbrechen und dem Drogenhandel werde beobachtet, ebenso wie Bildungschancen von Mädchen. Großbritannien will im Rahmen eines neuen Umsiedlungsprogramms im ersten Jahr bis zu 5000 Afghanen aufnehmen.

Einziger Fluchtweg ist der Flughafen von Kabul

Weil die Landesgrenzen geschlossen sind, bleibt momentan als einziger Fluchtweg nur der Flughafen in Kabul. Ein US-Regierungsvertreter sagte, dort seien rund 4500 amerikanische Streitkräfte. In den nächsten Tagen sollten es 6000 werden. Die Wege zum Flughafen werden allerdings scharf kontrolliert.

In den vergangenen 24 Stunden sind nach Angaben eines westlichen Informanten rund 5000 Diplomaten, Sicherheitskräfte, Entwicklungshelfer und Afghanen aus Kabul evakuiert worden. Die Evakuierungen durch Militärflüge würden weiterhin rund um die Uhr fortgesetzt, sagte die Person zu Reuters. Das Chaos außerhalb des Flughafens zu klären sei eine Herausforderung.

Dem Bundesaußenministerium zufolge wurden bislang 189 Deutsche aus Kabul ausgeflogen. Hinzu kämen 202 afghanische Bürger, 59 EU-Bürger und 51 Menschen aus anderen Staaten. Laut Bundesverteidigungsministerium wurden bislang über 450 schützenswerte Personen aus Afghanistan ausgeflogen. Weitere Flüge der Bundeswehr seien in Planung. „Die Bundeswehr wird so lange wie möglich, so schnell wie möglich so viele Menschen wie möglich dort rausholen“, sagte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer.

Das Bundeskabinett hatte am Mittwoch dem Mandat für einen befristeten Afghanistan-Einsatz zur Evakuierung von Deutschen und Ortskräften, die der Bundeswehr in den vergangenen Jahren geholfen hatten, zugestimmt. In dem von Verteidigungs- und Außenministerium vorgelegten Mandatstext, dem nun der Bundestag zustimmen muss, ist von einer Entsendung von bis zu 600 Soldaten die Rede. Das Mandat soll bis zum 30. September befristet werden. Die Kosten würden voraussichtlich insgesamt rund 40 Millionen Euro betragen.

Evakuierte in Frankfurt gelandet

In Frankfurt war am Mittwochmorgen ein erster Lufthansa-Flug mit Evakuierten aus Afghanistan gelandet. Rund 130 Personen befanden sich an Bord. Der Airbus vom Typ A340 übernahm in der usbekischen Hauptstadt Taschkent Menschen von Bundeswehr-Flügen aus Kabul. Sie beschrieben chaotische und dramatische Szenen am Flughafen Kabul. Im Rahmen einer Luftbrücke und in Abstimmung mit der Bundesregierung sollen in den nächsten Tagen weitere Sonderflüge aus Taschkent, Doha oder anderen Anrainerstaaten zur Evakuierung stattfinden, wie die Lufthansa mitteilte.

Die Bundesregierung steht in der Kritik, die Lage in Afghanistan völlig falsch eingeschätzt zu haben. Der gesamte Westen sei überrascht worden vom Tempo des Taliban-Vormarschs, sagte ein Sprecher des Außenministeriums. Über mögliche Rücktritte im Zusammenhang mit der Afghanistan-Politik sei im Kabinett nicht gesprochen worden, ergänzte Regierungssprecher Steffen Seibert. „Das Wort ist nicht gefallen.“ Es gebe dafür auch keinen Grund.

Mehr zum Thema: Die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan ist nicht nur ein militärisches, sondern auch ein geostrategisches Desaster für den Westen. Um ökonomisch zu überleben, dürften die Islamisten vor allem auf China setzen.

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