
In Afghanistan haben die radikal-islamischen Taliban mit Dschalalabad auch die vorletzte große Stadt erobert. Die Extremisten rückten nach Angaben eines Behördenvertreters am Sonntag kampflos in die Hauptstadt der Provinz Nangarhar im Osten des Landes ein. Erst am Samstag hatten sie offenbar ebenfalls ohne großen Widerstand Masar-i-Scharif im Norden eingenommen, wo die Bundeswehr bis zu ihrem Abzug im Juni ihr Hauptquartier in dem Land hatte.
Die Regierung kontrolliert nun kaum noch mehr als die eingeschlossene Haupstadt Kabul. Dort begannen die USA mit der Evakuierung ihrer Botschaft. Auch Deutschland bereitet einen Evakuierungseinsatz vor. Dazu will die Luftwaffe der „Bild am Sonntag“ zufolge am Montag mit Militärtransportern vom Typ A400M nach Kabul fliegen, um deutsche Bürger und afghanische Ortskräfte abzuholen.
In Dschalalabad habe sich der Gouverneur den Taliban ergeben sagte ein Vertreter der Sicherheitsbehörden. Dies sei die einzige Möglichkeit gewesen, das Leben von Zivilisten zu retten. Ein anderer Behördenvertreter sagte, die Islamisten hätten zugestimmt, Regierungsbeamten und Sicherheitskräften sicheren Abzug zu gewähren. Mit Dschalalabad kontrollieren die Taliban auch eine der wichtigsten Verbindungsstraßen nach Pakistan.
Am Samstag waren die Taliban-Kämpfer praktisch ohne Gegenwehr nach Masar-i-Scharif eingerückt, wie regionale Regierungsvertreter mitteilten. Die Sicherheitskräfte seien etwa 80 Kilometer nördlich ins benachbarte Usbekistan geflohen. Auch zwei einflussreiche Milizenführer, die die Regierung unterstützen - Atta Mohammad Noor und Abdul Rashid Dostum - sind geflohen.
Noor erklärte in den sozialen Medien, dass die Taliban aufgrund einer „Verschwörung“ die Kontrolle über die Provinz Balch und ihre Hauptstadt Masar-i-Scharif erlangt hätten.
Immer mehr Flüchtlinge unterwegs
In Kabul trafen immer mehr Flüchtlinge ein. Krankenhäuser mühten sich um die Versorgung zahlreicher Verletzter. Vor den Toren der Botschaften standen ganze Familien. In der Innenstadt versuchten sich viele Menschen mit Vorräten einzudecken. Hunderte Menschen übernachteten zusammengekauert in Zelten oder im Freien an Straßenrändern oder auf Parkplätzen, wie ein Anwohner berichtete. „Man kann die Angst in ihren Gesichtern sehen“, sagte er. Die Taliban werteten in einer Erklärung ihr rasches Vordringen als Beleg für ihre Akzeptanz in der Bevölkerung. Niemand müsse um sein Leben fürchten, auch Ausländer hätten nichts zu befürchten.
US-Präsident Joe Biden warnte die Extremsten vor Übergriffen auf Amerikaner. Seine Regierung habe Taliban-Vertretern in Katar mitgeteilt, dass jede Aktion, die US-Bürger und -Soldaten in Gefahr bringe, „mit einer schnellen und starken militärischen Reaktion der USA beantwortet werden wird“. Das Verteidigungsministerium stockte die Truppen zur Evakuierung von 3000 auf 5000 Soldaten auf. Sie sollen dabei helfen, Botschaftspersonal und einheimische Ortskräfte auszufliegen. Die US-Botschaft begann am Sonntag mit der Evakuierung. Erste Mitarbeiter hätten die Botschaft verlassen, der Großteil des Personals sei zum Abzug bereit, teilten US-Vertreter mit.
Bundeswehr bereitet Evakuierungseinsatz vor
Auch Deutschland will Mitarbeiter der diplomatischen Vertretung und deutscher Hilfsorganisationen sowie einheimische Helfer möglichst schnell ausfliegen. Die Bundeswehr bereitet dazu einen Evakuierungseinsatz vor. Einsatzkräfte stünden bereit und würden schnellstmöglich in Marsch gesetzt, teilte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Samstag mit. Kanzlerin Angela Merkel beriet am Samstag nach Angaben eines Regierungssprechers mit mehreren Ministern über die Lage. Eine Beteiligung des Deutschen Bundestags an einer solchen Entscheidung werde erfolgen.
Bundesaußenminister Heiko Maas bezeichnet die Sicherheit des Botschaftspersonals als oberstes Gebot. „Wir werden nicht riskieren, dass unsere Leute den Taliban in die Hände fallen. Wir sind für alle Szenarien vorbereitet“, sagt der SPD-Politiker der „Bild am Sonntag“. Der Zeitung zufolge wird in Taschkent in Usbekistan eine Drehscheibe für die Evakuierung errichtet. Mit Chartermaschinen solle es dann weiter nach Deutschland gehen.
Ein deutscher Offizier, der in Masar-i-Scharif lange im Einsatz war, äußerte sich verbittert. „Die Politik hatte 20 Jahre Zeit, eine Lösung zu finden, und hat nichts zustande gebracht“, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters. Er habe sich auf seinen örtlichen Mitarbeiter habe immer verlassen können und sei nun enttäuscht über die zögerliche Rettung der Ortskräfte vor Rache durch die Taliban. „Ich hätte mir gewünscht, dass er sich umgekehrt auf Deutschland als seinen ehemaligen Arbeitgeber genauso verlassen kann.“
Die Taliban waren seit dem Abzug der internationalen Truppen nach 20-jährigem Einsatz in Afghanistan zuletzt immer schneller vorgerückt und bis vor die Tore Kabuls vorgestoßen. Noch in der vergangenen Woche hieß es in einer Einschätzung des US-Geheimdienstes, dass die Hauptstadt noch mindestens drei Monate lang standhalten könnte. Die Taliban hatten in Afghanistan bereits von 1996 bis zu ihrem Sturz durch die US-geführten Truppen Ende 2001 geherrscht und eine sehr strenge Auslegung des islamischen Rechts durchgesetzt.
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