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Afrikanische Flüchtlinge in Libyen Gewalt und Folter vor den Toren Europas

Für viele Afrikaner ist Libyen das Tor nach Europa. In dem nordafrikanischen Land kämpfen rivalisierende Gruppen um die Macht. Flüchtlinge sind Milizen hilflos ausgeliefert – und damit Gewalt, Folter und Missbrauch.

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In dem Land gibt es keine funktionierende Regierung. Mehrere rivalisierende Gruppen kämpfen um die Macht. Quelle: AFP

An Bord der „Aquarius“ im Mittelmeer Die Leidensgeschichte von Laye Donzo ist nur eine von vielen. Hunderte aus dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge drängen sich am Abend des 23. Juni an Bord des Schiffes „Aquarius“, auf dem unter anderem die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen aktiv ist. Die Helfer bringen die erschöpften Menschen, die von Libyen aus übers Meer nach Europa wollten, an die sizilianische Küste. Jeder hat eine Geschichte zu erzählen, und meistens handelt sie von Gewalt und Missbrauch.

Donzo stammt aus Liberia. Vor dem Krieg flüchtete er mit seiner Familie nach Sierra Leone. Dort starben mehrere Familienmitglieder an Ebola, und Donzo entschied sich, nach Libyen zu gehen und dort zu arbeiten. Anfang des Jahres wurde er dort festgenommen und, zusammen mit Hunderten anderen Afrikanern, in einem Gebäude eingesperrt. Nur alle drei Tage gab es etwas zu essen, regelmäßig wurden die Häftlinge geschlagen, erzählt Donzo und zeigt seine vernarbten Wunden an Armen und Beinen.

Wer ihn festgenommen hat und warum, weiß er nicht. In Libyen gibt es keine funktionierende Staatsgewalt. Mehrere politische Gruppen kämpfen um die Macht, viele stützen sich dabei auf Milizen, die eng mit kriminellen Organisationen verwoben sind. Sie halten häufig Flüchtlinge, vor allem aus Afrika, grundlos fest, zwingen sie zur Arbeit oder erpressen Geld von deren Familien.

Einige dieser Gruppen haben den Menschenschmuggel als Geldquelle entdeckt, was wiederum viele potenzielle Flüchtlinge anlockt, deren Ziel Europa ist. Sie sind den Milizen meist hilflos ausgeliefert. Baba Ali aus Mali erzählt, wie er von Kämpfern in der Stadt Bani Walid östlich von Tripolis festgehalten wurde. In einem fabrikähnlichen Gebäude sei er mit 1500 anderen Afrikanern eingepfercht worden. Der Platz habe nicht ausgereicht, sich zum Schlafen hinzulegen, berichtet er. Man habe sie zur Arbeit gezwungen und regelmäßig geschlagen. Während des Ramadans konnte er fliehen.

Mostafa Dumbia wiederum, der von Polizisten in Uniform festgenommen wurde, kam erst wieder frei, nachdem seine Familie 1000 Dollar Lösegeld bezahlt hatte. Danach brachten die Kidnapper den Ivorer auf das Boot, das ihn nach Italien bringen sollte. Die Berichte der Flüchtlinge, die über Libyen gekommen seien, ähnelten sich, sagt Erna Rijnierse von Ärzte ohne Grenzen. Die Narben, die sie vorzeigten, deuteten auf eine zum Teil lange Folter hin. „Ich habe viele Knochenbrüche gesehen an Stellen, an denen man sich selbst keinen Bruch zufügen kann“, betont sie.


„Die EU delegiert die Schmutzarbeit an Libyen“

Zur Rettung von Flüchtlingen und zur Bekämpfung von Schleusern hat die EU im vergangenen Jahr im Mittelmeer die Operation „Sophia“ eingeleitet; im Juni wurde das Mandat für ein Jahr verlängert und ausgeweitet. EU-Mitarbeiter unterweisen nun auch Mitglieder der libyschen Küstenwache darin, Menschenschmuggel zu unterbinden. Eventuell wird sich künftig auch die Nato beteiligen. Sie beschloss auf ihrem Gipfel in Warschau die Operation „Sea Guardian“ im Mittelmeer, eine Art Fortsetzung des Einsatzes „Active Endeavour“ mit dem zusätzlichen Schwerpunkt Kampf gegen Schleuserkriminalität.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kündigte eine enge Zusammenarbeit mit der EU und der Operation „Sophia“ an. Obwohl durch die EU-Mission zahlreiche Menschenleben gerettet wurden, üben Hilfsorganisationen heftige Kritik. Es sei unannehmbar, die Menschen aus dem Meer zu retten und dann in ein Land zurückzuschicken, wo sie fortgesetztem Missbrauch ausgesetzt seien, sagte Judith Sunderland von Human Rights Watch. „Die EU – bald vielleicht zusammen mit der Nato – delegiert die Schmutzarbeit an die libyschen Kräfte, um die europäischen Grenzen zu sichern.“

Human Rights Watch und Amnesty International haben in mehreren Berichten auf Folter und sexuellen Missbrauch in Libyen hingewiesen. Sudanesische Frauen, so erklärte Fred Abrahams, nähmen Verhütungsmittel, bevor sie nach Libyen kämen, weil sie bereits damit rechneten, vergewaltigt zu werden. Das Problem sei allgemein bekannt.

Als die „Aquarius“ im Hafen von Messina einläuft, schauen die Flüchtlinge neugierig aus den Luken oder von Deck hinaus. Sie werden nun in einem „Hotspot“ aufgenommen, wo idealerweise ihre Asylanträge bearbeitet werden sollten. Einige jedoch werden das Lager jedoch verlassen und sich Richtung Norden durchschlagen, um anderswo Asyl zu beantragen. Viele der Neuankömmlinge vergießen beim Anblick der italienischen Küste Tränen, darunter auch ein Mann aus Mali. Er weine wegen seiner Familie, aber auch wegen allem, „was ich durchgemacht habe“.

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