Afrin Wiederannäherung gefährdet – Merkel kritisiert Erdogans Nordsyrien-Einsatz

Kanzlerin Merkel verurteilt erstmals den türkischen Militäreinsatz in Nordsyrien. Bundespräsident Steinmeier hofft indes auf bessere Beziehungen zur Türkei.

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Berlin/Istanbul Es ist ein Satz, der nachhallen wird – und schwere diplomatische Verwerfungen auslösen könnte. „Bei allen berechtigten Sicherheitsinteressen der Türkei ist es inakzeptabel, was in Afrin passiert“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch in der ersten Regierungserklärung der neuen großen Koalition. Tausende und Abertausende von Zivilisten würden verfolgt, kämen zu Tode oder müssten flüchten. „Das verurteilen wir auf das Schärfste.“

Es ist das erste Mal seit zwei Monaten, dass sich Merkel überhaupt zu dem Kampfeinsatz türkischer Truppen in der nordsyrischen Provinz Afrin geäußert hat. Am Wochenende hatten türkische Verbände zusammen mit verbündeten arabischen Milizen die Hauptstadt Afrin der gleichnamigen Region in Syrien eingenommen.

Die Türkei begründet ihre Offensive mit dem Kampf gegen den Terrorismus, die kurdischen Kämpfer betrachtet sie als verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Außenminister Heiko Maas ging sogar noch einen Schritt weiter. Eine dauerhafte Besatzung Afrins wäre sicher nicht mehr im Einklang mit dem Völkerrecht, sagte der SPD-Politiker am Mittwoch in seiner ersten Rede als Außenminister im Bundestag.

„Oberste Priorität für uns hat (...) die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und der Schutz von Leib und Leben der Zivilbevölkerung in Afrin“, betonte Maas. „Hierfür ist die Türkei in der Pflicht. Was immer die Türkei unternimmt, muss sich völkerrechtlich im Rahmen des Erforderlichen und des Verhältnismäßigen bewegen – und hier haben wir gerade in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen schon erhebliche Zweifel.“ In dieser Frage müsse der Druck auf die Verantwortlichen des Nato-Partners Türkei in aller Deutlichkeit aufrechterhalten werden.

Deutliches Zeichen für Erdogan

Die Bundesregierung gibt damit der Türkei ein deutliches Zeichen und will gleichzeitig eine Grenze der Akzeptanz setzen. Schaut man sich die Tonlage der beiden Spitzenpolitiker an, fällt auf, dass sie die generelle Kritik der vergangenen Wochen an dem türkischen Kampfeinsatz erst ab einem gewissen Punkt teilen.

Das türkische Militär (Türk Silah Kuvvetleri, TSK) war gemeinsam mit Kämpfern der Freien Syrischen Armee (FSA) am 20. Januar in die kurdisch dominierte Provinz einmarschiert, um sie nach eigenen Angaben „von Terroristen zu säubern“. In der Grenzregion hat seit gut zwei Jahrzehnten der syrische Part der PKK ihren Sitz, die YPG.

Während die PKK in den USA, Europa, und damit auch in Deutschland als Terrororganisation angesehen wird, ist das bei der YPG nicht der Fall. Ankara geht davon aus, dass beide Organisationen, die kurdischen Ursprungs sind, dieselbe Führungsstruktur teilen.

In der Tat wurden in der Vergangenheit mehrere Anschläge in der Türkei von Zellen in der Region Afrin geplant. Auch PKK-Führer Abdullah Öcalan versteckte sich vor seiner Festnahme 1999 mehrere Jahre lang in Afrin, übrigens mit Duldung des damaligen syrischen Präsidenten Hafiz al-Assad, dem Vater des aktuellen Machthabers in Damaskus, Baschar al-Assad.

Opposition in der Türkei vertraut der Armee

Seit im Sommer 2015 die Kämpfe zwischen PKK und dem türkischen Militär wieder aufgeflammt sind, starben bei Anschlägen und Gefechten rund 1200 Menschen auf türkischer Seite, darunter Soldaten, Polizisten und Zivilisten.

In der Türkei ist der Rückhalt für die „Operation Olivenzweig“ gegen die YPG in Nordsyrien deshalb sehr groß. Auch die Opposition hat an dem Einsatz, der bisher rund 60 türkische Soldaten das Leben kostete, nichts auszusetzen. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der CHP erklärte kurz nach der Einnahme der gleichnamigen Provinzhauptstadt Afrin, seine Partei habe „immer unserer Armee vertraut“.

Unterschiedlichen Angaben zufolge sollen neben hunderten YPG-Kämpfern allerdings auch bis zu 500 Zivilisten bei Gefechten gestorben sein. Die YPG gibt an, die Türken hätten ein Massaker angerichtet.

Die türkische Armee tue alles, um den Eindruck zu vermeiden, sie sei überhaupt gegen Zivilisten vorgegangen. Regelmäßig veröffentlicht der Generalstab Fotos, auf denen türkische Soldaten in friedlichen Posen mit syrischen Zivilisten aus der Region zu sehen sind.

Merkel und Maas sparten ungeachtet dessen nicht mit Kritik. Zwar brachte Merkel auch die Bombardements in der Region Ost-Ghuta durch das Regime des syrischen Gewaltherrschers Baschar al-Assad zur Sprache und kritisierte auch Russland, das den Bombardements zusehe.

Doch die harschen Worte, die die Kanzlerin an die Türkei richtete, haben ein viel größeres Gewicht. Das Land ist Nato-Mitglied und zentraler Partner bei den Versuchen der Europäer, die Flüchtlingskrise einzudämmen. Gerade erst hatte sich das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara wieder leicht entspannt. Dieser Prozess der Wiederannäherung ist nun akut gefährdet.

Steinmeier bemüht sich um Entspannung

Denn es waren nicht nur Merkel und Maas, die sich im Bundestag die Türkei vornahmen. SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles warf Ankara Völkerrechtsbruch vor. „Für Staaten gilt das Gewaltverbot in internationalen Beziehungen“, sagte sie.

Nicht weniger deutlich wurde Unions-Fraktionschef Volker Kauder. Er forderte, dass sich der Nato-Rat mit dem Vorgehen der Türkei gegen die Kurden in Syrien beschäftigen müsse. Die Nato sei auch ein Wertebündnis. Es dürfe nicht unwidersprochen bleiben, wenn ein Nato-Mitglied Menschenrechte verletze.
Während die Regierungsparteien in der Türkeipolitik die Zügel anziehen, bemüht sich das deutsche Staatsoberhaupt offenbar um Entspannung. In einem Telefonat zwischen Frank-Walter Steinmeier und dem türkischen Staatschef Erdogan vereinbarten beide Seiten, die Verbesserung der bilateralen Beziehungen zu beschleunigen.

Es könnte zur diplomatischen Taktik gehören, der Türkei einerseits die Hand hinzuhalten, und ihr auf der anderen Seite klare Grenzen zu setzen. Zuckerbrot und Peitsche, das ist das, was viele Politiker in Europa verlangen, während ein anderer großer Flügel den kompletten Abbruch der Beziehungen zu dem Land fordert.
Ob die türkische Führung, die Kritik aus dem Westen immer weniger als moralisches Hindernis erachtet, da mitspielt, dürften die nächsten Tage zeigen. Erdogan sagte am Mittwoch, die Türkei werde sich in Syrien nicht zurückziehen, „ehe die Terrorbedrohung dort endet“. Und das Außenministerium in Ankara verurteilte in einem schriftlichen Statement am Mittwochabend Merkels Äußerungen, nannte diese „unglücklich“ und sprach von „Desinformation“.
Das ist immerhin nicht ganz so harsch wie vor anderthalb Jahren. Damals kritisierte Martin Schulz, seinerzeit noch als Präsident des EU-Parlaments, die vielen Verhaftungen nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei. Schulz sprach davon, dass eine „rote Linie überschritten“ sei. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim antwortete darauf, dass ihn Schulz‘ rote Linien nicht interessiere. „Über deine rote Linie ziehen wir einfach eine neue Linie.“

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