AKP Erdogans Querdenker

Präsident Recep Tayyip Erdogan regiert die Türkei derzeit im Alleingang. Tatsächlich? In der Regierungspartei AKP und Behörden haben Funktionäre immer öfter eine eigene Meinung und machen unkonventionelle Vorschläge.

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Einige Funktionäre haben immer öfter eine andere Meinung als der türkische Präsident. Quelle: Reuters

Zürich Recep Tayyip Erdogan hat, was die Banken angeht, eine Mission. Der türkische Präsident will, dass die heimischen Institute ihre Zinsen senken, um das Wachstum anzukurbeln. Teure Kredite seien schlecht, und dementsprechend solle auch die Zentralbank die Leitzinsen niedrig halten.

Der Gouverneur der türkischen Zentralbank, Ahmet Cetinkaya, muss die Forderungen überhört haben. Ungeachtet der Warnungen des türkischen Präsidenten vor einer Hochzinspolitik haben die Währungshüter erstmals seit fast drei Jahren die Zügel gestrafft. Sie erhöhten den Satz für wöchentliche Refinanzierungsgeschäfte, außerdem den Leitzins für Übernachtkredite, überraschend an. Zuletzt hatte die Notenbank Anfang 2014 die Zinsen angehoben, als die Türkische Lira auf Talfahrt ging. Das bedeutet, dass türkische Banken jetzt die Zinsen für ihre Kunden eher noch erhöhen dürften, statt sie zu senken.

Erdogan dürfte sich darüber wenig freuen. Und doch muss er damit leben. Bis in die Regierung hinein existieren abweichende Meinungen von seiner Linie, die er während seiner öffentlichkeitswirksamen Auftritte äußert. Oft handelt es sich um behutsam geäußerte Alternativvorschläge; zu sagen, die AKP sei im Streit zerteilt oder drohe auseinanderzugehen, wäre übertrieben. Trotzdem trauen sich manche Funktionäre, offen von Erdogans Linie abzuweichen. Der Notenbanker war kein Einzelfall.

So sprach sich Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci kürzlich deutlich gegen eine Verlängerung des Ausnahmezustands aus. „Als Wirtschaftsminister sage ich: Ich will den Ausnahmezustand nicht mehr, mein Bruder“, zitierte die türkische Tageszeitung Hürriyet Zeybekci am Donnerstag. Er wolle, dass in der Türkei „alles normal“ sei.

Präsident Erdogan äußerte sich bislang nicht zu der Frage, ob der jeweils dreimonatige Ausnahmezustand, der in der Türkei mit dem Akronym 'Ohal' abgekürzt wird, noch ein zweites Mal auf dann neun Monate verlängert wird. Vielmehr rechtfertigt er die Dekrete und Maßnahmen bei jedem seiner Auftritte mit dem Ohal.

Vor hunderten Dorfwächtern sagte Erdogan jüngst: „Wir werden nicht mehr warten, bis der Terrorismus zu uns kommt, sondern wir werden sie selbst finden und bestrafen.“ Ob der türkische Staatschef dafür eine weitere Periode benötigt, die ihm nahezu uneingeschränkte Macht verleiht, ist nicht klar.

Wirtschaftsminister Zeybekci hingegen scheint ein Ende des Ausnahmezustands bereits herbeizusehnen. Sobald sich die Türkei um alles gekümmert habe, um die Bekämpfung des Terrorismus etwa, wolle er nicht, dass der Ausnahmezustand weiter gelte - wobei nicht ganz klar ist, zu welchem Zeitpunkt der Terrorismus in der Türkei aus einer Sicht als bekämpft gelten darf. Trotzdem fordert Zeybekci ganz offen: „Ich will nicht, dass der Ausnahmezustand abermals verlängert wird“, zitiert ihn die Zeitung Hürriyet.

Geht es nach Erdogan, wird die Türkei derzeit optimal regiert – von ihm selbst. Eigentlich stehen dem türkischen Präsidenten laut Gesetz nur repräsentative Aufgaben zu. Doch der Ausnahmezustand hat dem türkischen Staatschef die Macht verliehen, mit Dekreten durchzuregieren. Und liest man gerade im Ausland politische Analysen über die Türkei, liegt der Eindruck nahe, die Regierungspartei AKP habe für die Zeit des Ausnahmezustands auf Durchzug gestellt und winke jeden Gedanken des Präsidenten durch.


Hohe Beliebtheitswerte für Erdogan

Erdogan den Rücken zu kehren dürfte sich angesichts seiner Beliebtheitswerte derweil wohl kaum ein Politiker wagen. Trotzdem zeigen sie hier und da, dass Alternativ-Ideen zirkulieren. Und bisweilen gehen manche sogar auf Konfrontationskurs. So stellte sich Wirtschaftsminister Zeybekci am Donnerstag auch demonstrativ auf die Seite der Zentralbank: Er unterstütze die Zinsanhebung, sagte er – während Erdogan einen solchen Schritt zuvor offen kritisiert hatte.

Und auch beim Thema EU-Beitritt herrscht offenbar keine hundertprozentige Einigkeit. Als das EU-Parlament androhte, in einer nicht-bindenden Abstimmung für ein Aussetzen der Gespräche zu plädieren, drohte Erdogan seinerseits, die Türkei könne sich statt der EU auch dem sogenannten Schanghai-5-Bündnis zuwenden. Das ist ein loser Staatenblock, dem unter anderem Russland und China angehören und der relativ wenig Gestaltungsspielraum besitzt.

Inzwischen wurde bekannt, dass die Türkei - trotz ihres momentanen Beobachterstatus in dem Bündnis - im kommenden Jahr den Energievorsitz der Gruppe übernehmen wird. Premierminister Binali Yildirim wurde daraufhin im türkischen Fernsehen auf diese Entwicklungen angesprochen. Sein Kommentar: Schanghai-Fünf sei keine Alternative zum EU-Beitritt. Damit nahm er Erdogans Drohung praktisch den Wind aus den Segeln.

Seit November 2002 gewann Erdogan jede Wahl im Land, oft mit Erdrutschsiegen. Seine Popularität im Land ist weiter hoch - und nach dem Putschversuch sogar noch gestiegen, schreibt der türkische Politikexperte Ali Bayramoglu. „Erdogans Beliebtheitswerte sind seit dem gescheiterten Umsturz um zehn Prozentpunkte angestiegen und halten sich deutlich über 50 Prozent“, weiß Bayramoglu. Er erklärt Erdogans Popularität damit, dass er es geschafft hat, die Macht des Militärs einzuschränken. Außerdem spiele Erdogan derzeit die nationalistische Karte, was bei den Wählern gut ankomme.

Aber auch bei anderen Themen existieren abweichende Meinungen. Etwa bei der Kurdenpolitik der Regierung und des Staatschefs. Landwirtschaftsminister Celik preschte kürzlich mit dem Vorschlag vor, die Türkei benötige eine neue Kurdenpartei. „Alternative Gruppierungen werden entstehen, gegen jede Art von Druck“, prophezeite Celik in einem Interview.

Staatschef Erdogan hat die prokurdische HDP quasi zum Staatsfeind erklärt, weil sie Terrorgruppen wie die verbotene kurdische PKK unterstützen soll. Einigen Mitgliedern wird tatsächlich eine Nähe zur PKK nachgesagt. So besuchten einzelne HDP-Abgeordnete nachweislich die Beerdigungen von Selbstmordattentätern, was auch unter Wählern der Partei großen Unmut hervorrief.

Inzwischen ist die HDP-Führung verhaftet und wegen mutmaßlicher Unterstützung von Terrorgruppen angeklagt worden. Staatschef Erdogan lässt keine Gelegenheit aus, um die einst gefeierte Partei zu diskreditieren, auch wenn die Gerichtsurteile noch ausstehen.


„Meine Frau ist dafür, ich selbst bin dagegen"

Eine neue Kurdenpartei hatte er bislang jedoch noch nicht ins Gespräch gebracht. Mit seinem Vorschlag, die HDP müsse durch eine alternative Vertretung für die bis zu 15 Millionen Kurden im Land abgelöst werden, bewegt sich Landwirtschaftsminister Celik zwar durchaus auf Regierungslinie: In dem Interview mit der der Zeitung Hürriyet betonte Celik nämlich, die HDP habe ihr Los verspielt und sei abzulehnen. Die Tatsache, dass gerade viele Kurden die Verhaftungswellen unter HDP-Abgeordneten emotionslos zur Kenntnis nahmen, sei Beleg dafür.

Doch lieber dürfte es der AKP gewiss sein, wenn die vielen Kurden, die knapp ein Fünftel der türkischen Bevölkerung ausmachen, anschließend ihre Partei wählen anstatt eine neue Gruppierung. Trotzdem spricht sich Celik für Neugründungen aus: „Die (kurdische) Bevölkerung im Südosten ist divers, und sie sollte ihrem Wunsch nach einer demokratischen Lösung Ausdruck verleihen“, erklärte er in der Zeitung.

Ein heikles Thema ist die Todesstrafe, die bald in der Türkei wiedereingeführt werden könnte. Sie ist seit 2004 offiziell abgeschafft - und der Menschenrechtsbeauftragte des türkischen Parlaments, Mustafa Yeneroglu, will, dass das auch so bleibt. In einer Talkshow im österreichische. Fernsehsender ORF äußerte der AKP-Politiker die Hoffnung, die Todesstrafe möge nicht zurück ins Gesetz gelangen.

Staatschef Erdogan will sich da noch nicht eindeutig positionieren. Der Grund: Er will die Verfassung des Landes ändern, um ein Präsidialsystem einzuführen. Dafür benötigt er im Parlament die Stimmen der rechtsnationalistischen MHP. Die Wiedereinführung der Todesstrafe nutzt Erdogan hierbei als Verhandlungsmasse, weil er weiß, dass die MHP dafür ist. Auf den Auftritten, die bis nach Europa zu hören sind, betont er daher jedes Mal, die Todesstrafe würde eingeführt, „wenn das Volk es will“.

Abweichler aus den eigenen Reihen sind da Gift für die Verhandlungen zwischen Erdogan und MHP-Chef Bahceli. Umso erstaunlicher, dass Yeneroglu sich so weit aus dem Fenster lehnt. Und nicht nur er: Auch Außenminister Mevlüt Cavusoglu ist offen gegen die Todesstrafe.

Auf einer Pressekonferenz mit seinem deutschen Amtskollegen, Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, erklärte er Mitte November, er sehe die Wiedereinführung der Todesstrafe nicht in Stein gemeißelt. Viel mehr gebe es eine große Diskussion darüber im Land. „Meine Frau ist dafür, ich selbst bin dagegen“, erklärte Cavusoglu.

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