Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzählen, so lautet der erste Vers aus Urians Reise um die Welt von Matthias Claudius. Und etwas zu erzählen hatte auch Peter Altmaier, noch bevor er am Sonntag nach Kiew und einen Tag später weiter nach Moskau flog. Ein energiepolitisches Gesamtkonzept wolle er finden, nicht weniger kündigte Altmaier vor seiner Abreise an, mit dem die Europäische Union, Russland und die Ukraine leben könnten.
Es war seine zweite Reise als Bundeswirtschaftsminister (CDU) und die zweite, von der nicht zu erwarten war, dass sie einfach werden würde. Im März hatte Altmaier in Washington den US-Handelsminister Wilbur Ross getroffen und mit ihm über die Strafzölle der USA auf Stahl und Aluminium gesprochen. Ende März setzten die USA die Zölle vorerst nur für einen Monat und später für einen weiteren aus.
In Kiew und Moskau sollte es nun besonders um das Projekt Nord Stream 2 gehen: Russland plant eine zweite Rohrleitung durch die Ostsee, um von 2020 an doppelt so viel Erdgas, nämlich 110 Milliarden Kubikmeter im Jahr, nach Europa zu transportieren. Die Pipeline soll über mehr als 1200 Kilometer von einer Bucht südwestlich von St. Petersburg nach Lubmin an der Ostseeküste führen. Am Dienstag begannen vor dem Ort in Mecklenburg-Vorpommern vorbereitende Baggerarbeiten.
Ein Ziel des Projekts: Russland will über seinen Staatskonzern Gazprom die Gaslieferungen durch die Ukraine minimieren oder gar komplett einstellen – und das Nachbarland mit seinen maroden Rohren als Transitstaat für Gaslieferungen überflüssig machen. Noch verdient die Ukraine mit den Durchleitungen etwa zwei Milliarden Euro im Jahr. Sie besteht daher auf einem neuen Vertrag, auch nach Ende 2019.
Peter Altmaier knüpfte bei seiner Reise in die beiden Länder daran an, womit er sich seit seiner Zeit als Bundesumweltminister den Ruf eines Vermittlers erworben hat: mit anderen sprechen, Argumente vorbringen, auf eine Einigung hinarbeiten, und wenn es sein muss, diese Schritte so lange wiederholen, bis sich abzeichnet, dass sie wirken.
In Kiew traf er am Montag darum zunächst den ukrainischen Premierminister Wolodymyr Hrojsman. Die Wolken hingen tief und dunkel, Altmaiers Stimmung aber war gut. Schließlich sei er zu „Besuch bei Freunden“, wie er mehrfach betonte. Geduldig wartete er in dem großen Konferenzraum, in dem auch die ukrainische Regierung in tiefen Ledersesseln tagt.
„Ich habe der Ukraine zugesagt, dass wir in allen Gesprächen, auch im Hinblick auf Energieprojekte wie Nord Stream 2, das berechtigte Interesse der Ukraine nach Versorgungssicherheit berücksichtigen werden“, sagte Altmaier nach dem Treffen. Man wolle sicherstellen, „dass ein vernünftiger Gastransit durch die Ukraine auch nach Fertigstellung von Nord Stream 2 gesichert und gewährleistet ist“.
Sprach's und machte sich auf nach Moskau, um zu ermitteln, ob, und wenn ja, wie er die russische Seite davon überzeugen könne.
Altmaier will keinen Handelskrieg
Seine neue Rolle scheint der Bundeswirtschaftsminister so anzulegen: als einer, der sich vornimmt, dass am Ende für alle Beteiligten „eine Win-win-Situation, also ein positives Ergebnis herauskommt“, gewissermaßen ein Verhandlungsreisender mit Angeboten in der Tasche. Altmaier ist keiner, der sich in einen Handelskrieg hineintreiben lassen will. Er bietet wohl überlegt den kleinen Finger und setzt darauf, dass er dann die ganze Hand behalten kann.
Dem russischen Energieminister Aleksander Nowak und Regierungschef Dmitri Medwedew brachte Altmaier daher unter anderem den Vorschlag mit, die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland voranzutreiben. Davon unberührt bleiben die Wirtschaftssanktionen, die die Europäische Union 2014 gegen Russland verhängte, nachdem das Land die Krim annektiert und begonnen hatte, Separatisten im Osten der Ukraine zu unterstützen.
Für möglich hält Altmaier aber beispielsweise eine verstärkte Zusammenarbeit in Energie- und Umweltfragen und zum Aufbau eines russischen Mittelstands, sowie „ganz konkrete Engagements deutscher Unternehmen“.
Ob diese Vorschläge, diese Taktik Nowak und Medwedew überzeugten, die Ukraine auch zukünftig als Gastransitland zu akzeptieren? Altmaier jedenfalls wirkte nach den Gesprächen zufrieden und zuversichtlich. „Ich sehe eine Chance, dass wir in den nächsten Tagen in intensiven Gesprächen auch eine Lösung finden können“, sagte er. Über „die Konditionen, die Bedingungen“ müsse weiter gesprochen werden.
Details behielt Altmaier für sich. Sie gaben ihm aber immerhin genug Anlass, spontan auf dem Rückweg nach Berlin noch einmal in Kiew zu landen und dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko von seinen Treffen zu berichten.
Denn die Ukraine soll sich unter keinen Umständen übergangen fühlen, wenn sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der russische Präsident Wladimir Putin am Freitag in Sotschi treffen. Erwartet wird, dass sie dann auch die von Altmaier aufgenommenen Gespräche in Sachen Nord Stream 2 und Gaslieferungen durch die Ukraine fortsetzen.
Zudem stellte Altmaier ein multilaterales Format zu der Frage im Rahmen der Europäischen Union in Aussicht. Der Bundeswirtschaftsminister gab sich Mühe, den Eindruck zu vermeiden, Probleme im deutschen Alleingang und ohne die europäischen Partner lösen zu wollen. Zumal es zwischen Russland und der Ukraine um mehr geht als um ein Gastransportsystem. Der Ukraine-Konflikt hält an. Gerade hat Wladimir Putin eine Brücke zwischen der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel und dem russischen Festland eingeweiht.
Was Sie über Nord Stream 2 wissen müssen
Die Pipeline soll 1230 Kilometer lang sein und von der Narwa-Bucht in Russland bis Lubmin in der Nähe von Greifswald reichen. Mehr als 600 Kilometer sind bereits verlegt. Baubeginn war im Sommer 2018, Ende 2019 soll die Pipeline in Betrieb gehen. Sie soll dann aus 200.000 Rohren bestehen. Neben den russischen Firmen OMK und Chelpipe entfielen 41 Prozent des Auftrags auf den deutschen Hersteller Europipe – ein Gemeinschaftsunternehmen aus Salzgitter und der Dillinger Hütte mit Sitz in Mülheim an der Ruhr. Die zwölf Meter langen Einzelrohre werden auf See verschweißt und mit Spezialschiffen auf dem Meeresboden verlegt. Dabei durchqueren sie Gebiete, die zu Russland, Finnland, Schweden, Dänemark und Deutschland gehören. Den Betreibern zufolge können mit dem Gas der Röhre rechnerisch 26 Millionen Haushalte versorgt werden.
Die in der Schweiz ansässige Projektgesellschaft Nord Stream 2 gehört dem russischen Gazprom-Konzern. An der Finanzierung der Röhren beteiligen sich westliche Konzerne, darunter der Düsseldorfer Versorger Uniper und die BASF-Tochter Wintershall. Hinzu kommen der britisch-niederländische Shell-Konzern, die französische Engie und OMV aus Österreich. OMV und Uniper haben nach eigenen Angaben bislang je rund 600 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Am Ende sollen es für jeden Partner rund 950 Millionen Euro sein. Die Gesamtkosten werden auf 9,5 Milliarden Euro beziffert.
Die Gasquellen in Deutschland und Europa gehen in den kommenden Jahren weiter zurück, weshalb immer mehr importiert werden muss. Gas gehört in Deutschland zu den wichtigsten Brennstoffen beim Heizen, wo der Anteil bei etwa 50 Prozent liegt. Auch in der Stromproduktion spielt Gas im Zuge der Energiewende eine immer wichtigere Rolle. Zuletzt lag der Anteil bei etwa 13 Prozent. Beim geplanten Kohleausstieg sollen die weniger klimaschädlichen Gaskraftwerke einspringen. Die wichtigsten Gaslieferanten für Deutschland sind neben Russland Norwegen und die Niederlande. Russland kommt etwa auf 40 Prozent, Norwegen auf 25 und die Niederlande auf 20 Prozent. Die Eigenproduktion sinkt kontinuierlich.
Kritiker befürchten eine immer größere Abhängigkeit von Russland, das unter Präsident Wladimir Putin Gas auch schon als politisches Druckmittel eingesetzt hat. So hatte Putin im Streit mit der Ukraine bereits mehrfach den Gas-Hahn abgedreht. Einige der älteren Pipelines verlaufen von Russland durch die Ukraine, wofür der Nachbar Gebühren erhebt. Mit den Ostsee-Röhren umgeht Russland die alten Routen. Die Ukraine gehört zu den Gegnern von Nord Stream 2, ebenso wie die USA. US-Präsident Donald Trump will das Geschäft mit verflüssigtem Gas (LNG) ausbauen und sieht Europa dabei als Wachstumsmarkt. Die USA haben den Beteiligten an Nord Stream 2 mit Sanktionen gedroht. In Deutschland gibt es bislang keinen LNG-Terminal, Anlagen in anderen europäischen Ländern sind nicht ausgelastet.
Auch in anderen Handelsfragen treffen Unwägbarkeiten deutsche und andere europäische Unternehmen und damit Wirtschaften wenn vielleicht auch nicht gleich stark, so doch gleichermaßen: die zu erwartenden US-Strafzölle, die Iran-Sanktionen, die Präsident Trump wieder in Kraft setzen will, sowie von den USA gegen Russland angekündigte Sanktionen, die auch ausländische Firmen berühren, die in Russland Handel treiben.
Bei all diesen Beschwernissen des weltweiten Handels, und all den exportstarken Unternehmen im Land, bleibt zu erwarten, dass Altmaier sich auch in nächster Zeit um internationale Wirtschaftspolitik zu kümmern hat und kümmern will. Und, in diesem Zusammenhang, die eine oder andere Reise tun wird.