Amnesty International „Bundesregierung verliert Menschenrechte aus dem Blick“

In Deutschland gibt es weder die Todesstrafe noch Folter in Gefängnissen. Trotzdem würden hierzulande die Menschenrechte nicht ausreichend geachtet, meint Amnesty International – und nennt konkrete Beispiele.

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Selmin Çaliskan, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, vor der Vorstellung des Jahresberichtes über die weltweite Lage der Menschenrechte. Auch Deutschland steckt darin Kritik ein. Quelle: dpa

Berlin Bei Menschenrechtsverletzungen denkt man zuerst an Länder wie Saudi-Arabien, Iran, China oder Nordkorea. Amnesty International listet in seinem Jahresbericht aber insgesamt 160 Staaten auf, in denen die Menschenrechte nicht ausreichend geachtet werden. Dazu zählen auch europäische Länder wie Schweden, Spanien, Polen - und Deutschland.

Die Lage der Menschenrechte hat sich nach Angaben von Amnesty International weltweit massiv verschärft. In 122 von 160 untersuchten Ländern seien Menschen gefoltert oder anderweitig misshandelt worden, sagte Selmin Caliskan, Generalsekretärin von Amnesty Deutschland am Dienstag bei der Vorstellung des Jahresberichts.

60 Millionen Menschen seien auf der Flucht. Die Organisation forderte angesichts der Flüchtlingskrise eine Neuausrichtung der Politik. "Nur eine konsequente auf Menschenrechten basierte Politik hilft, langfristig Konflikten vorzubeugen und Fluchtursachen zu reduzieren", sagte Caliskan.

Amnesty kritisierte den Vorstoß der Bundesregierung, die nordafrikanischen Länder Marokko, Tunesien und Algerien zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären und Flüchtlinge aus diesen Staaten schneller abzuschieben. In den drei Ländern gebe es schwerwiegende menschenrechtliche Probleme, wie Folter oder Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sagte Caliskan.

Insbesondere Homosexuelle würden dort verfolgt. "Wenn die Bundesregierung diese drei Länder tatsächlich zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt, verstößt sie nicht nur gegen das Grundrecht jedes Menschen, Asyl zu suchen, sondern auch gegen die eigenen verfassungsrechtlichen Kriterien zur Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten", betonte Caliskan.

Amnesty würde sich von der Bundesregierung auch mehr Druck auf die Türkei wünschen. Dort stellte die Organisation seit den Parlamentswahlen im Juni 2015 eine massive Verschlechterung der Menschenrechtslage fest.

„Die Medien waren 2015 beispiellosen Repressalien ausgesetzt, und die Meinungsfreiheit wurde erheblich eingeschränkt, auch im Internet“, heißt es in dem Bericht. „Fälle von exzessiver Polizeigewalt und von Misshandlungen in Gewahrsam häuften sich. Die für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen wurden nur selten zur Rechenschaft gezogen.“

Es gibt nur wenige Lichtblicke im Amnesty-Bericht. Einen entdeckte die Organisation aber in Deutschland: Die „Willkommenskultur“ gegenüber Flüchtlingen, die in weiten Teilen der Bevölkerung weiter existiert. An der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung übt Amnesty dagegen scharfe Kritik.

Von Bundeskanzlerin Angela Merkels Politik der offenen Tür sei nichts mehr übrig geblieben. „Stattdessen wird nur auf Härte und Abschottung gesetzt“, sagt die Generalsekretärin von Amnesty in Deutschland, Selmin Caliskan, und meint damit die zahlreichen Asylrechtsverschärfungen. „Die Bundesregierung verliert die Menschenrechte aus dem Blick.“


Wie Iran, Saudi-Arabien und USA im Menschenrechtsbericht wegkommen

Seit der Einigung im Atomstreit mit dem Iran im Sommer 2015 sucht der Westen wieder nach engen politischen Kontakten zu Teheran. Die deutsche Wirtschaft hofft auf Milliardengeschäfte im Iran. An der Menschenrechtslage hat die politische Entspannung laut Amnesty aber noch nichts verändert.

Ein Auszug über die Lage im Iran aus dem Jahresbericht: „Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen waren an der Tagesordnung. (...) Die Behörden vollstreckten grausame Körperstrafen wie Blendungen, Amputationen und Auspeitschungen. (...) Viele Gefangene wurden hingerichtet, darunter mindestens vier, die zur Tatzeit noch minderjährig waren.“

Auch in punkto Saudi-Arabien zeichnet der Bericht ein düsteres Bild. Der ölreiche Golfstaat ist ein wichtiger Wirtschaftspartner Deutschlands und ein strategischer Partner im Kampf gegen den Terror. Menschenrechtsverletzungen werden von deutschen Ministern bei Besuchen in Riad zwar stets angesprochen. Menschenrechtsorganisationen wünschen sich aber deutlich stärkeren Druck auf das Königreich.

Öffentliche Auspeitschungen und Stockhiebe sind in Saudi-Arabien weiter an der Tagesordnung. Die Zahl der Hinrichtungen stieg 2015 weiter an. „In vielen Fällen ging es um Straftaten die nicht zu den „schwersten Verbrechen“ zählen und deshalb laut Völkerrecht nicht mit der Todesstrafe geahndet werden dürfen“, schreibt Amnesty. „Zahlreiche Hinrichtungen erfolgten in der Öffentlichkeit durch Enthauptung.“

In den Vereinigten Staaten wurden dem Bericht zufolge im vergangenen Jahr 27 Männer und eine Frau hingerichtet. Daneben kritisiert Amnesty aber vor allem, dass das Gefangenenlager auf dem US-Marinestützpunkt Guantanamo Bay weiter besteht, obwohl US-Präsident Barack Obama seine Schließung versprochen hat. Außerdem heißt es in dem Bericht: „Die Anwendung von lange anhaltender Isolationshaft in Bundesgefängnissen und Haftanstalten der US-Bundesstaaten bot ebenso Anlass zur Sorge wie der Einsatz exzessiver Gewalt durch Polizeibeamte.“

Die Organisation rief US-Präsident Barack Obama auf, das Gefangenenlager in Guantanamo noch in seiner Amtszeit zu schließen. Guantanamo sei ein Synonym für willkürliche Haft und Folter geworden, sagte Caliskan. Obama unternahm in Washington einen neuen Anlauf zum Aus für das umstrittene Gefangenenlager. Kernpunkt ist die Verlegung der verbliebenen Gefangenen in Hochsicherheitsgefängnisse in den USA. Der Kongress hat genau diesen Schritt 2011 per Gesetz verboten und dürfte vor der Wahl im November seine Haltung kaum ändern.

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