Amnesty International hat nach eigenen Angaben „glaubwürdige Hinweise“ auf Misshandlungen und sogar Folter von festgenommenen Verdächtigen in der Türkei. Die Menschenrechtsorganisation forderte die Türkei am Sonntag auf, unabhängigen Beobachtern Zugang zu allen Einrichtungen zu gewähren, in denen die mehr als 13.000 Verdächtigen festgehalten würden. „Berichte von Misshandlungen inklusive Schlägen und Vergewaltigung in Polizeigewahrsam sind extrem alarmierend“, sagte Europa-Direktor John Dalhuisen nach einer am Sonntag verbreiteten Mitteilung. Die Regierung müsse diese „abscheulichen Praktiken“ sofort stoppen.
Amnesty kritisierte das am Samstag erlassene Dekret von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der erste Erlass unter dem am Donnerstag verhängten Ausnahmezustand erlaubt unter anderem, dass Behördenvertreter bei Treffen von Verdächtigen und Anwälten anwesend sein und diese in Ton- oder Videoaufnahmen aufnehmen dürfen. Dokumente, die zwischen Festgenommenen und Anwälten ausgetauscht werden, können beschlagnahmt werden. Amnesty bemängelte, damit werde das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren unterlaufen.
Die Organisation teilte mit, sie habe mit Anwälten, Ärzten und einem Diensthabenden an einem Ort gesprochen, wo Festgenommene festgehalten würden. Ihr lägen mehrere Berichte vor, wonach Verdächtige an „inoffiziellen Orten“ wie Sportzentren oder in einem Stall gehalten würden. Nach diesen Berichten habe die Polizei Festgenommenem unter anderem Essen, Wasser und medizinische Behandlung verweigert. Polizisten hätten Verdächtige demnach „Schlägen und Folter unterworfen, inklusive Vergewaltigung und sexuelle Nötigung“.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
In Istanbul hängen seit dem Putschversuch zwar an jeder Straßenecke Plakate mit dem Schriftzug „Hakimiyet Milletindir“. Das lässt sich in etwa mit „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ übersetzen, wie es auch im Grundgesetz der Bundesrepublik verankert ist. Tatsächlich liegt unter dem Ausnahmezustand in der Türkei aber so gut wie alle Macht bei Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Am Wochenende machte Erdogan erstmals von dem Recht Gebrauch, per Dekret durchzugreifen.
Mehr als 13.000 Menschen sind seit dem Putschversuch festgenommen worden. Erdogan verfügte nun, dass Verdächtige bis zu 30 Tage in Polizeigewahrsam gehalten werden können, bislang mussten sie binnen vier Tagen einem Haftrichter vorgeführt werden. Allerdings dürfte derzeit ein eklatanter Mangel an Richtern und Staatsanwälten herrschen, von denen mehr als 1500 selber in Untersuchungshaft sitzen. Sie gehören zu den insgesamt fast 6000 Verdächtigen, gegen die im Zusammenhang mit dem Umsturzversuch Haftbefehl erlassen wurde.
Ihnen werden Verbindungen zum Prediger Fethullah Gülen vorgeworfen, aus Sicht Erdogans der Drahtzieher des Putschversuches. Sogar seine eigene Präsidentengarde hält Erdogan offenbar für unterwandert, fast 300 ihrer Soldaten wurden festgenommen. Ministerpräsident Binali Yildirim kündigte die Auflösung der gesamten Elite-Einheit an.
Erdogan lässt zudem mehr als 2300 Einrichtungen schließen, die aus Sicht der Regierung zum Gülen-Netzwerk gehören, darunter mehr als 1000 private Schulen. Mehr als 45.000 Staatsbedienstete wurden bislang suspendiert. Wem Verbindungen zu Gülen nachgewiesen werden, der hat per Dekret keine Chance auf Rückkehr in den öffentlichen Dienst. 21.000 Lehrern an Privatschulen wurde die Lizenz entzogen. Nur Stunden nach Verhängung des Ausnahmezustands am Donnerstag setzte die Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention teilweise außer Kraft. Sendelizenzen werden entzogen, Webseiten gesperrt.
Aus Sicht der Regierung sind das alles notwendige Maßnahmen, um „Metastasen“ (Erdogan) aus dem Staatsapparat zu entfernen. Beweise dafür, dass Gülen hinter dem Putschversuch aus Teilen des Militärs steckt, bleibt die Regierung bislang aber schuldig - sie verweist auf die kommenden Gerichtsprozesse. Unabhängig vom Umsturzversuch und dem harten Vorgehen hat die Unterwanderung aber einen realen Hintergrund.
Bereits in den 1990er Jahren begann die Gülen-Bewegung damit, ihre oft gut ausgebildeten Leute in staatlichen Stellen zu installieren. Lange Zeit waren Gülen und Erdogan Verbündete, Gülen-Anhänger ebneten Erdogan den Weg an die Macht. Westliche Sicherheitsexperten schätzen, dass zeitweise weit mehr als die Hälfte der Polizisten in der Türkei Verbindungen zur Gülen-Bewegung hatten.
In der Justiz stellten bislang auch Erdogan-kritische Juristen den Einfluss Gülens nicht in Frage. Und schon 2014 - im Jahr nach dem offenen Zerwürfnis zwischen Erdogan und Gülen - gab es Medienberichte über Spannungen zwischen Regierung und Armeeführung wegen einer Unterwanderung auch der Streitkräfte.