Istanbul Eines muss man Recep Tayyip Erdogan lassen: Der türkische Staatschef macht keinen Hehl aus seinen Ambitionen. Schon seit seiner Amtsübernahme als Ministerpräsident im März 2003 erklärt er regelmäßig, er wolle ein starker Präsident mit viel Macht werden. Bundeskanzlerin Merkel soll in vertraulichen Gesprächen erwähnt haben, dass sie Erdogan, was das angeht, für völlig konsistent halte.
Es überrascht daher, dass scheinbar niemand zugehört hat, als Erdogan im Herbst 2016 in der türkischen Hauptstadt Ankara eine Rede vor Bürgermeistern und sogenannten Dorfschützern aus dem terrorgeplagten Südosten des Landes hielt. Der Putschversuch war da gerade drei Monate her, das Land bereits im Ausnahmezustand. Gleichzeitig tobte im Nachbarland Syrien der Krieg, in der Türkei herrschte Terrorangst.
Unter diesem Eindruck versprach Erdogan den anwesenden Lokalpolitikern: „Ab heute werden wir nicht mehr darauf warten, bis die Konflikte an unseren Grenzen bereits ausgebrochen sind. Wir warten auch nicht mehr bis zur letzten Minute, bis wir längst im Morast stecken. Von nun an werden wir höchstpersönlich die Probleme konfrontieren, bevor sie uns konfrontieren.“
Konkret wurde Erdogan in Bezug auf terroristische Bedrohungen: „Wir warten nicht mehr, bis der Terror loslegt und uns trifft. Wo auch immer sie sind, wir finden sie und bestrafen sie.“
Wer eine Ankündigung für Erdogans aktuelle Außenpolitik sucht: Dort ist sie. Der Einmarsch in der syrischen Provinz Afrin, Streits mit Griechenland und Zypern um Einfluss im Mittelmeer, die Konfrontation mit dem Bündnispartner USA sowie die angekündigten Kampfeinsätze in weiteren Grenzgebieten zu Syrien sowie dem Irak – alles folgt einem Muster, dessen Umrisse Erdogan im Oktober 2016 klar vorgegeben hat.
Der Westen mag den Kampfeinsatz der Türkei in Nordsyrien kritisieren, den Einmarsch als völkerrechtswidrig deklarieren – es kümmert den türkischen Staatschef nicht mehr. Der Westen stellt für Erdogan kein moralisches Hindernis mehr dar.
Andersherum ausgedrückt: Erdogan entgleitet dem Westen. Ganz im Gegenteil legt der türkische Präsident nun selbst den Hebel an. Das sieht man auch am heutigen Dienstag. So sind nach einem neuen UN-Bericht Hunderttausende Menschen in der Türkei Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden. Der mehrfach verlängerte Ausnahmezustand dürfe zudem kein Vorwand für weitere Menschenrechtsverletzungen sein, kritisierte das UN-Menschenrechtsbüro.
Doch bei vielen Verordnungen sei kein Zusammenhang mit einer Bedrohung des Landes zu erkennen. „Das scheint darauf hinzudeuten, dass der Ausnahmezustand genutzt wird, um jede Form von Kritik oder Meinungsverschiedenheiten mit der Regierung zu unterdrücken“, hieß es.
Und wie reagiert die türkische Regierung? Das Außenministerium warf dem zuständigen UN-Kommissar Terrorunterstützung vor. Der türkische Staatschef könnte sich zum zweiten Putin wandeln. Auch der russische Staatschef hegt Groll auf den Westen und „seine“ Institutionen, will sein Land zu alter Größe zurückführen und missachtet dabei gerne demokratische und diplomatische Gepflogenheiten.
Die Türkei war lange ein stabiler Anker in der Region. Mehr noch, galt das muslimisch geprägte Land für mehrere Jahrzehnte als einziger echter Ansprechpartner des Westens in der islamischen Welt.
Für Erdogans Abkehr muss sich der Westen aber auch an seine eigene Nase fassen.
Westen hat Versprechen gebrochen
So war es die Europäische Union, die Erdogan gleich zwei Mal die Türe vor der Nase zugeschlagen hatte. Im Jahr 2005, als allen voran Bundeskanzlerin Merkel dem damaligen türkischen Regierungschef Erdogan klarmachte, dass sie ihn nicht in der EU haben wolle.
Und nach dem Putschversuch 2016, als viele westliche Regierungen mit ihren recht späten Beileidsbekundungen zwischen den Zeilen haben durchblicken lassen, dass ein Abgang Erdogans sie nicht sonderlich gestört hätte.
Auch bei den aktuellen Problemen haben die westlichen Bündnisse versagt. Ankara hatte vor mehr als zwei Jahren gefordert, in Nordsyrien eine Pufferzone einzurichten; nach eigenen Angaben, um dort innersyrische Flüchtlinge zu schützen, sowie einen Schutzwall zu errichten, durch den Terroristen ferngehalten würden.
Die EU fand den Vorschlag gut, doch es folgten keine Taten. Dafür eine Reihe Anschläge in der Türkei.
Beim Flüchtlingspakt wurden Erdogan drei Milliarden Euro versprochen, aber noch nicht ausgezahlt. Die Bundesregierung gelobte, keine Waffen mehr in die Türkei zu exportieren. Trotzdem genehmigte sie seit Dezember rund 50 Rüstungsausfuhren in das Land.
Nun kündigt die türkische Führung an, nach dem Einmarsch in Afrin auch weitere Grenzregionen in Syrien und dem Nordirak „von Terroristen zu säubern“, wie es oft heißt. Dass Erdogan damit den Bündnispartner USA in eine unangenehme Situation bringt, stört ihn schon lange nicht mehr. Sie unterstützen dort nämlich die Rebellengruppe YPG, die Ankara als Terrororganisation sieht.
In der Tat haben Schwesterorganisationen der YPG in der Vergangenheit für mehrere Anschläge in der Türkei verantwortlich gezeichnet. Für Erdogan sind es daher die Amerikaner, die die Türkei in die Selbstverteidigung gedrängt haben.
Erdogan, der den Zenit seiner Macht bereits mit Händen greifen kann, will sich von seinen alten Partnern nicht mehr daran hindern lassen, ihn zu erreichen.
Für ihn gibt es nur noch eine Maxime: ein machtvoller Präsident in der Türkei und der Region zu werden. Aber das wissen die westlichen Regierungschefs ja bereits.