Mindestens ebenso viele werden einem nicht-greifbaren Urheber die Schuld geben, um eine Erklärung für das Unbegreifliche zu bekommen. Verschwörungstheorien sind in der Türkei fast so beliebt wie im arabischen Raum. Hinter jedem Ereignis steckt im Geheimen irgendwer mit irgendjemandem: die Gülen-Bewegung, die PKK, der IS, die CIA, der Mossad.
Die Bars und Cafés von Cihangir sind leerer als sonst. Das Viertel grenzt an den Anschlagsort und ist beliebt unter Ausländern und jungen Leuten. Hier ist Erdogan vor allem deswegen verhasst, weil immer weniger Bars ihre Lizenz für Alkoholausschank verlängert bekommen. Eine türkische Freundin sagt eine für heute Abend geplante Party ab. Andere schreiben, sie würden heute zuhause bleiben und raten mir, dasselbe zu tun. Auch das Auswärtige Amt warnt: Deutsche Touristen sollen ihr Hotel besser nicht verlassen.
Der Anschlag wird auch wirtschaftliche Konsequenzen haben. Zwar werden die wenigsten Unternehmen deswegen Investitionsentscheidungen überdenken. Doch der Tourismus, eine der wichtigsten Sektoren der Türkei, wird die Attentate spüren. Er leidet ohnehin schon unter dem Ausbleiben der vier Millionen russischen Touristen. Nachdem die Türkei im November ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen hatte, verhängte Putin Wirtschaftssanktionen.
Nach den Deutschen sind die Russen die größte Touristengruppe. Viele von ihnen werden jetzt ihre Urlaubspläne überdenken. Kreuzfahrtschiffe haben schon nach den Anschlägen im Januar bekannt gegeben, die Stadt in dieser Saison nicht anzufahren. Etwa ein Prozent BIP-Wachstum könnte die Einbußen im Tourismus-Geschäft die Türkei kosten.
Zwei Freunde schreiben mir, dass sie zunächst lieber doch nicht nach Istanbul kommen möchten. Was soll ich antworten? Die Wahrscheinlichkeit, im Istanbuler Straßenverkehr ums Leben zu kommen, dürfte wesentlich höher sein, als von einem Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt zu werden. Nur nützen Fakten meist nichts gegen Gefühle.
Das ist tragisch, weil genau das von Terroristen beabsichtigt wird: Angst schüren, Normalität zerstören. Wichtig wäre, jetzt genauso weiter zu machen, als sei nichts geschehen. Trotzdem nehme auch ich die kleinere, weniger belaufene Straße auf dem Weg zurück in meine Wohnung. Immerhin: Am Abend schon füllen sich die Bars von Cihangir wieder. Es wird weitergehen. Bis zum nächsten Anschlag.