Arbeitsbedingungen „Die Europäer importieren schlechte Ideen aus den USA“

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„Adam Smith wird völlig missverstanden.“

Wie Lincoln hatte laut Ihnen auch Adam Smith gehofft, dass freie Märkte die Arbeiter befreien, indem sie sie von der Autorität ihrer Arbeitgeber – damals noch Lords – entbinden. Das klingt nicht so sehr nach dem, was wir heute mit Adam Smith verbinden.
Adam Smith wird in dieser Hinsicht heute völlig missverstanden. Er wird als Befürworter unseres heutigen Kapitalismus dargestellt. Aber wenn wir seine Schriften genau lesen und seinen historischen Hintergrund beachten, sehen wir, er steht für etwas völlig anderes. Das wichtigste am Aufstieg der Marktgesellschaft war für ihn die Befreiung der Arbeiter aus der Abhängigkeit und Überwachung durch ihre Herren. Smith schrieb während des Übergangs der britischen Gesellschaft von einer Feudal- zu einer Marktgesellschaft. In der Feudalgesellschaft gab es kaum Bargeld und kaum Luxusgüter für die Feudalherren.

Dafür standen Hunderte Bedienstete und Knechte unter ihrer Fuchtel. Die Lords ernährten die von ihnen Abhängigen und gaben ihnen Wohnraum und erhielten dafür Autorität über sie, deswegen nannte man sie ja Lords. Die gleiche tyrannische Macht hatten sie über die Bauern, die ihre Felder bestellten.

Mit dem Aufstieg der Marktgesellschaft war es den Lords möglich, ihr Geld für sich selbst auszugeben.
Smith verachtete das und schrieb: „Alles für uns und nichts für die anderen, dürfte immer und überall der üble Leitsatz der Herren der Menschheit gewesen sein.“ Anstatt für den Unterhalt Hunderter Menschen aufzukommen, kauften sich die Lords diamantene Schnallen und ausgefallene Kleidung. Das Resultat der Befriedigung dieser Eitelkeiten war ironischerweise die Befreiung der Knechte und Bediensteten aus der tyrannischen Herrschaft der Lords. Anstatt als Hausangestellte unter der Autorität eines Herren zu stehen, wurden diese Menschen nun unabhängige Handwerker, fertigten Güter oder betrieben kleine Geschäfte. Sie hatten nicht mehr einen Herren, sondern sehr viele Kunden – und damit verlor der Einzelne die Autorität über sie. Ein ähnliches Schicksal prognostizierte Smith auch den Bauern in der Marktgesellschaft. Er argumentierte, die Landinhaber würden eine höhere Pacht für ihre Böden verlangen. Das könnten sie aber nur, wenn sie das Land langfristig verpachteten, damit der Bauer es effizienter bewirtete. Die langfristige Pacht wiederum verschaffte dem Bauern mehr Unabhängigkeit – wenn er weiß, dass er das Land in den nächsten 20 Jahre bewirten darf, muss er nicht mehr jedem Befehl des Lords nachkommen.

Sie zeigen dann, wie die industrielle Revolution die Ideen von Adam Smith und Abraham Lincoln darüber, wie freie Märkte die Arbeiter befreien würden, zunichte machte. Was passierte?
Smith war sich sicher, Großunternehmen hätte keine Chance auf freien Märkten. Aufgrund der Erfahrungen seiner Zeit war das durchaus schlüssig. Aus seiner Sicht waren selbständige Kleinunternehmer die effizientesten Produzenten, weil sie die Früchte ihrer Arbeit selbst einheimsen konnten und deswegen motivierter waren als angestellte Arbeiter. Was Smith nicht vorhersehen konnte, war die industrielle Revolution, die Einführung von Maschinen und die damit verbundenen gigantischen Skaleneffekte. Großunternehmen fegten die kleinen Handwerksbetriebe vom Markt. Die industrielle Revolution nahm Arbeitern, die selbstständig waren als Handwerker oder Ladeninhaber, wieder ihre Freiheit. Sie gingen insolvent und mussten in Fabriken für niedrigere Löhne unter der extrem strengen und tyrannischen Herrschaft ihrer Chefs arbeiten. Unser Bild vom freien Markt entstammt der vorindustriellen Zeit, aber existiert bis heute weiter, obwohl der Markt heute ein ganz anderer ist und zu krassen Verwerfungen führt.

Trotz all der Verwerfungen, zu denen die Märkte führen, lässt sich doch kaum bezweifeln, dass der Lebensstandard heute deutlich höher ist, als vor der industriellen Revolution.
Ich bezweifle nicht, dass die industrielle Revolution großen finanziellen Wohlstand geschaffen hat. Die Frage ist, ob es wirklich notwendig ist, dass wir diesen Wohlstand mit Freiheit bezahlen. Das Verhalten von Menschen am Arbeitsplatz muss koordiniert werden. Aber muss das bedeuten, jede menschliche Würde am Arbeitsplatz zu opfern? Koordination macht es nicht notwendig, dass Mitarbeiter keine Stimme im Unternehmen haben. Eine effiziente Produktion setzt nicht voraus, dass Arbeiter während einer Acht-Stunden-Schicht nicht die Toilette aufsuchen dürfen, wie das in manchen Geflügelfabriken in den USA geschieht. Es gibt keine rationale Notwendigkeit für eine solche Tortur. In Europa, wo Mitarbeiter deutliche mehr Mitspracherechte über ihre Arbeitsbedingungen haben, arbeiten Unternehmen ebenfalls sehr effizient – und das, obwohl die Mitarbeiter nicht so schlecht behandelt werden.

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