Arbeitsbedingungen „Die Europäer importieren schlechte Ideen aus den USA“

Anders als in Europa, wo es Mitbestimmungsrechte für Arbeitnehmer gibt, haben die meisten Amerikaner keine Stimme innerhalb ihrer Firma, auch Gewerkschaften gibt es kaum. Quelle: Getty Images

In den USA herrschen Arbeitgeber wie Diktatoren über Arbeitnehmer, sogar in deren Freizeit, sagt die Philosophin Elizabeth Anderson. In Deutschland sei die Lage besser. Doch manche Entwicklung sieht sie mit Besorgnis.

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Arbeitgeber kontrollieren Ihre Angestellten in Amerika, schreibt die Philosophin Elizabeth Anderson. Walmart verbiete seinen Beschäftigen, während der Arbeit Bemerkungen auszutauschen, das sei „Zeitdiebstahl“. Apple inspiziere die persönlichen Gegenstände seiner Angestellten im Einzelhandel, was jeden Tag bis zu einer halben Stunde unbezahlte Arbeitszeit mit sich bringe. Der Geflügelfabrikant Tyson hindere seine Arbeiter daran, während der Arbeitszeit Toiletten aufzusuchen und zwinge diese, sich einzunässen. Ein Gespräch über die ungleiche Macht von Arbeitgeber und -nehmer, die Idee der freien Märkte und Mitbestimmungsrechte am Arbeitsplatz.

WirtschaftsWoche: Frau Anderson, Sie stellen in Ihrem Buch die These auf, in Amerika kontrollierten Manager das Leben ihrer Mitarbeiter – am Arbeitsplatz genauso wie in der Freizeit. Und zwar in einem viel intensiveren Ausmaß als eine staatliche Regierung ihre Bürger kontrolliert. Sie nennen das „Private Regierung“. Was ist das genau?
Elizabeth Anderson: Jede große Organisation, in der das Verhalten vieler Menschen miteinander koordiniert werden muss, braucht eine Regierungsstruktur. Nicht nur im Staat gibt es eine Regierung, sondern auch in Unternehmen. Die Strukturen, die durch die Ansammlung von Entscheidungsbefugnissen, von Autorität, entstehen, können wir untersuchen.

Blicken wir auf US-Unternehmen, stellen wir fest, die Regierungsstruktur ist standardmäßig qua Gesetz eine Diktatur. Der Arbeitgeber gibt Anweisungen und vom Arbeitnehmer wird erwartet, dass er diese befolgt. Anders als in Europa, wo es Mitbestimmungsrechte für Arbeitnehmer gibt, haben die meisten Amerikaner keine Stimme innerhalb ihrer Firma, auch Gewerkschaften gibt es kaum. Gewerkschaften repräsentieren nur sechs Prozent derer, die im privaten Sektor tätig sind. 80 Prozent derer, die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erleben, befürchten Vergeltungsmaßnahmen durch ihren Arbeitgeber, wenn sie sich beschweren, und schweigen deshalb. Die Arbeitnehmer hier müssen alle möglichen nicht legitimen Anweisungen durch ihren Arbeitgeber hinnehmen, weil sie keine rechtliche Handhabe gegen solche Überschreitungen haben.

Zur Person

Aber ist der Begriff Diktatur wirklich angemessen? Wenn ich meinen Job hasse, kann ich kündigen – ich habe eine Exit-Option. Eine staatliche Diktatur kann ich nicht so leicht verlassen.
Das ist ein übliches Argument, um das gegenwärtige System zu verteidigen. Ich sehe allerdings nicht, dass wir aus der Diktatur am Arbeitsplatz so leicht herauskommen: Arbeitnehmer haben das Recht, eine Diktatur zu verlassen und einer anderen beizutreten, das sichert aber keine Rechte am Arbeitsplatz. 90 Prozent aller Kellnerinnen in den USA beklagen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Wenn es fast jede Kellnerin betrifft, scheint es keinen Arbeitsplatz zu geben, an den Kellnerinnen fliehen können, es sei denn, sie verzichten auf ihre branchenspezifischen Kenntnisse.

Wenn Politiker oder Ökonomen über Arbeitsbedingungen reden, geht es meist um Löhne und die Wochenarbeitszeit. Warum nehmen Sie das Machtungleichgewicht zwischen Arbeitgeber und -nehmer in den Fokus?
Die menschliche Würde und Freiheit von Arbeitnehmern sind im gegenwärtigen politischen Diskurs der USA kaum ein Thema. Es geht um Verteilungsfragen, aber das ist nur eines von vielen wichtigen Themen. Neuerdings ist auch sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ein Thema, was zwar wichtig ist, aber auch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Vorgesetzte drangsalieren Arbeitnehmer auf so viele verschiedene Arten, denen das amerikanische Gesetz nichts entgegensetzt. In Europa gibt es Mobbing-Richtlinien und einklagbare Rechte. In den USA kann sich ein Arbeitnehmer juristisch nur gegen Mobbing wehren, wenn die Taten einen diskriminierenden Charakter aufweisen. Drangsaliert Ihr Chef jeden Mitarbeiter gleichermaßen, ist daran nichts Diskriminierendes.

In Ihrem Buch spüren Sie der Idee des freien Marktes bis ins England des 17. Jahrhunderts nach. Sie zeigen, dass der freie Markt einmal ein linkes, egalitäres Projekt war, auch in den USA. Wie sahen die Ursprünge dieser Idee in Amerika aus?
Die Idee des freien Marktes bestimmt den politischen Diskurs in den USA seit der amerikanischen Revolution 1776. Deswegen betrachteten viele Europäer Amerika als den Platz in der Welt, an dem die Gesellschaft gleicher und freier Menschen am ehesten entstehen würde. Das war damals keine allzu abwegige Annahme. Zumindest für weiße Männer waren die Chancen, selbständig ein gutes Auskommen zu finden, in den USA höher als in allen anderen Ländern der Welt. Auch wer angestellt tätig war, verdiente oft so gut, dass er nach einigen Jahren genug gespart hatte, um sein eigenes kleines Unternehmen zu gründen. Und genau das war die große Vision hinter dem freien Markt: Jeder kann selbständig sein. Abraham Lincoln formulierte einst: Gott habe jedem Menschen einen Kopf und zwei Hände gegeben, und das heiße, Gott habe gewollt, dass dieser Kopf die zwei Hände anleite. Also, wofür braucht es einen Boss?

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