Armut in Venezuela Die Müllsucher von Caracas

Venezuela leidet unter Misswirtschaft. Die Armut hat mittlerweile auch die Mittelschicht fest im Griff. In der Hauptstadt wühlen sich Studenten, Rentner und sogar Ladenbesitzer durch den Müll – auf der Suche nach Essen.

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Eine schwangere Frau sucht sich Obst aus den Mülltüten, die in Caracas auf der Straße liegen. Quelle: AP

Caracas Bis vor kurzem arbeitete Julio Noguera in einer Bäckerei. Nun verbringt er seine Abende in der venezolanischen Hauptstadt Caracas damit, Abfall zu durchsuchen. „Ich komme her, um nach Essen zu suchen. Wenn ich es nicht tun würde, würde ich verhungern“, sagt Noguera, während er einen Haufen vergammelter Kartoffeln sortiert.

Unlängst gelang es ihm, ein Dutzend Tomaten aus dem Müll zu bergen. „Ich bin gelernter Bäcker, aber nun gibt es hier keine Arbeit mehr“, sagt er. „Also versuche ich, hiermit auszukommen.“

Viele Bewohner der Stadt versammeln sich allabendlich, um im stinkenden Unrat Essbares aufzustöbern. Auch die beiden jungen Töchter von Monica Espinosa sind oft unter den Müllsuchern. Ein bisschen Koriander, ein paar Zitronen und Reste eines Kohlkopfes - diese Abfälle helfen ihnen über die Runden, seit der Vater die Familie verlassen hat, wie Espinosa sagt.

Zwei Wohnungen besitze sie noch, aber sie bringe sich durch, indem sie Soßen aus dem gefundenen Gemüse koche und diese an Geschäfte verkaufe. „Ich bin eine alleinstehende Mutter mit zwei Kindern, und das hilft mir, um durchzukommen.“

Aus ganz Caracas kommen arbeitslose Menschen nach Einbruch der Dämmerung zu dem Abfallhaufen an einem Fußgängerweg im Stadtkern. Sie stochern nach vergammeltem Obst und Gemüse, das von nahegelegenen Geschäften weggeworfen wurde.

Regelmäßig werden sie dabei von Besitzern kleiner Geschäfte begleitet, von Studenten und Rentnern - von Leuten, die sich als Mittelklasse betrachten, auch wenn ihr Lebensstandard längst schon zerstört wurde von einer dreistelligen Inflationsrate, Nahrungsmittelengpässen und einer kollabierenden Währung.

Nicht alle dieser Müllsammler haben ihren Job verloren. Jhosriana Capote, Studentin an einer Berufsakademie, kommt zum Müllberg, um ihre Vorratskammer aufzustocken. Kürzlich absolvierte sie noch ein Praktikum bei einem Tochterunternehmen von Coca-Cola. Jetzt wühlt sie sich durch den Unrat auf der Suche nach Nahrungsmitteln.

Das sogenannte Mülltauchen ist kein neues Phänomen in dem Land - aber ein wachsendes. Einst war Venezuela die reichste Nation in Südamerika. Dann brachte der Fall der Ölpreise in Kombination mit massiven wirtschaftlichen Schwierigkeiten Verzweiflung über das Land. Nahezu die Hälfte aller Venezolaner sagt, sie könne sich nicht mehr drei Mahlzeiten am Tag leisten, wie eine aktuelle Umfrage unter 1200 Erwachsenen ermittelte.

Dabei war die Armut unter der Regierung des 2013 verstorbenen Staatschefs Hugo Chávez zurückgegangen. Nun hat eine Studie von drei führenden Universitäten in Caracas ergeben, dass 76 Prozent der Venezolaner unter der Armutsgrenze leben. 2014 waren es demnach 52 Prozent gewesen. Grundnahrungsmittel wie Mehl und Öl werden subventioniert. Aber Obst und Gemüse sind für viele Familien zu unerschwinglichen Luxusgütern geworden.

Manche wühlen sich durch die Müllberge, um Essbares zu ergattern. Mehr noch lockt jedoch die Aussicht, sich ein paar Bolívar zu verdienen, indem sie noch verwertbare Nahrungsmittel herausfischen und verkaufen.

Die Regierung macht die Opposition für die desolate Lage verantwortlich. Sie soll einen „wirtschaftlichen Krieg“ führen, um Unruhe zu schüren und Präsident Nicolás Maduro aus dem Amt zu treiben. Dagegen haben die Behörden ein Programm auf den Weg gebracht, um städtische Farmen aufzubauen, die Lebensmittelgeschäfte beliefern sollen.

Die Leidtragenden sind die Menschen. „Wir beobachten schreckliche Opfer in vielen Gesellschaftskreisen“, sagt Carlos Aponte, Soziologieprofessor an der Universität von Venezuela. „Vor ein paar Jahren hatte Venezuela nicht diese extreme Art der Armut, die Menschen dazu treibt, Müll zu essen.“

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