Kaliforniens einziges Kernkraftwerk liegt an einem der malerischsten Orte der Welt. Umgeben ist es von Naturschutzgebieten, direkt am Pazifik – wegen der Kühlung – nur etwa drei Autostunden nördlich von Santa Barbara. Sein Name Diablo Canyon – übersetzt Teufelsschlucht – ist nicht gerade vertrauenserweckend. Zumal es von Erdbebenspalten umgeben ist. Laut Betreiber kann es einem Erdbeben der Stärke 7.5 auf der Richterskala standhalten. Seit Fertigstellung des Werks vor knapp 50 Jahren hat es wegen dieser Gefahr immer wieder Proteste gegeben.
Und nachdem Kaliforniens Kernkraftwerk San Onofre, nahe San Diego, 2013 stillgelegt wurde, sollte Diablo Canyon eigentlich 2025 folgen. So hatte es der damalige kalifornische Gouverneur Jerry Brown 2016 versprochen. Natur- und Meeresschützer feierten die Entscheidung. Kalifornien wäre dann frei von Atomkraft gewesen.
Doch nun, so hat sein Nachfolger und politischer Ziehsohn Gavin Newsom durchgesetzt, soll Diablo Canyon weitere fünf Jahre am Netz bleiben; bis 2030. Der kalifornische Senat hat das gerade mit überwältigender Mehrheit beschlossen. Was beim Überzeugen half, war die gegenwärtige Hitzewelle, die die Stromversorgung von Kalifornien fast in die Knie zwang.
Während in Deutschland immer noch über die Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke debattiert wird, ist man in Kalifornien, einem der fortschrittlichsten Länder beim Klimaschutz und zugleich stark von Erdbeben gefährdet, zur Überzeugung gekommen, dass es ohne Kernkraft nicht geht. Zumindest nicht in diesem Jahrzehnt.
Ob Diablo Canyon weiter am Netz bleibt, liegt jedoch nicht allein in Newsoms Ermessen. Die endgültige Entscheidung muss die Nuclear Regulatory Commission (NRC) treffen, eine unabhängige Behörde der US-Regierung, die in den USA über die Sicherheit von Kernkraftwerken wacht. Normalerweise braucht diese mindestens fünf Jahre, um solche Verlängerungen zu genehmigen. Doch die kalifornische Senatorin Dianne Feinstein ist überzeugt, „dass die NRC es in dem nötigen Zeitrahmen hinbekommt.“
Leicht gefallen ist das Newsom nicht, der sich gern als einer der progressivsten Klima-Politiker zelebrieren lässt. Zumal selbst der Betreiber des Kernkraftwerks, der kalifornische Stromversorger PG&E, das Schließen des Kernkraftwerks befürwortet hatte. PG&E, das über viele Jahrzehnte seine Infrastruktur vernachlässigt hatte und in den vergangenen zwanzig Jahren zweimal bankrott ging, wollte nicht die Mittel aufbringen, um die Laufzeit des Werkes zu verlängern.
Das Problem ist jedoch, dass Diablo Canyon immer noch acht Prozent des gesamten Stroms von Kalifornien erzeugt und unter den nichtfossilen Energien 17 Prozent ausmacht. An hehren Zielen mangelt es nicht: Bis 2045 will Kalifornien klimaneutral sein. Zudem hat Newsom gerade durchsetzen können, dass ab 2035 keine neuen Verbrenner-Autos mehr in Kalifornien zugelassen werden können, was den Strombedarf ebenfalls erhöhen wird.
Doch der Ausbau der erneuerbaren Energien ist in den vergangenen Jahren nicht so rasch vorangekommen wie geplant. Zwar will Kalifornien in den nächsten fünf Jahren 54 Milliarden Dollar ausgeben, um von fossilen Brennstoffen wegzukommen, doch schon 2025 auf Kernkraft zu verzichten, würde ein Loch in die kalifornische Energieversorgung reißen, dass nur durch neue Gaskraftwerke kurzfristig aufgefangen werden kann. Das will Newsom vermeiden.
Wie politisch gefährlich zudem Stromausfälle sind, musste schon einer seiner Vorgänger, Gray Davis von den Demokraten, erleben. Dass dieser zurückgerufen und im Herbst 2003 von Arnold Schwarzenegger ersetzt wurde, hatte viel mit den von US-Energiekonzern Enron ausgelösten Stromausfällen von vor zwanzig Jahren zu tun.
Zwar hat Newsom gerade im vergangenen Jahr eine Abberufung überzeugend abschmettern können und Beobachter halten seine Wiederwahl im November für sicher. Doch er wird auch als Kandidat fürs Weiße Haus gehandelt und kann sich infolgedessen keine Schwächen erlauben. Zumal er seine Karriere auch auf seiner Klimapolitik aufgebaut hat. Entgegen kommt Newsom, dass US-Präsident Joe Biden genauso wie das EU-Parlament Kernkraft zur grünen Energie deklariert und gerade einen sechs Milliarden Dollar schweren Fond aufgelegt hat, um Laufzeitverlängerungen finanziell abzufedern. Auf den will sich Kalifornien stützen. Um Stromversorger PG&E zu entlasten, sollen im kalifornischen Budget 1,4 Milliarden Dollar bereitgestellt werden, um Diablo Canyon für weitere fünf Jahre fit zu machen.
Craig Piercy, Chef der American Nuclear Society, wittert bereits eine Wiedergeburt der Nuklearenergie in den USA. Das mag übertrieben sein. Aber für den Übergang kann man nicht auf sie verzichten, meint er. „Diablo Canyon über 2025 hinaus online zu halten, wird Kaliforniens Übergang zu sauberer Energie sichern, indem das kalifornische Stromnetz mit einer ständig verfügbaren und erschwinglichen Quelle für regelbaren sauberen Grundlaststrom, der durch Kernenergie erzeugt wird, gestützt wird“, unterstreicht Piercy.
Wissenschaftler von der Stanford Universität und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) gehen sogar noch einen Schritt weiter. In einer Studie empfehlen sie, Diablo Canyon sogar bis mindestens 2035 weiterlaufen zu lassen und seine Energie zudem für das Entsalzen von Meerwasser und das Herstellen von Wasserstoff einzusetzen. Damit könnte Kalifornien nicht nur seine Wasserknappheit lindern und Stromausfällen vorbeugen, sondern zugleich seinen Kohlendioxid-Ausstoß gegenüber 2017 um zehn Prozent senken.
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