Vermutlich gibt es Schlimmeres, über das sich die Inder derzeit ärgern als über die bislang mickrige Medaillenausbeute ihres Landes in London. Den zweimaligen Stromausfall etwa in der vergangenen Woche, der nahezu die Hälfte der Einwohner über Stunden ohne Elektrizität ließ.
Doch beides, das Scheitern, eine stabile Elektrizitätsversorgung aufzubauen, und das schlechte Abschneiden bei Olympischen Spielen signalisieren, dass die Führung des Schwellenlandes, gemessen an den eigenen Ansprüchen, bisher nicht liefert, was sie verspricht. Zur Halbzeit am Freitag um 18 Uhr, als diese Kolumne geschrieben wurde, hatte Indien gerade zwei Medaillen ergattert, eine silberne und eine bronzene, und lag im Medaillenspiegel auf Platz 32.
Man könnte es sympathisch finden, dass Indien seinen Sportlern offenbar unmenschliche Ausleseverfahren, harten Drill oder sogar Doping schon in frühen Kindesjahren erspart, wie es andere Nationen tuen, um ihr internationales Prestige mittels Sport aufzupolieren.
Hohe Erwartungen in London – mehr als drei Medaillen
Wenn das Absicht wäre, dann könnte die Kolumne jetzt enden. Doch so ist es nicht. Denn eigentlich will die aufstrebende Großmacht bei den Spielen in London ein neues Kapitel in der olympischen Geschichte schreiben, heißt es beispielsweise in „The Times of India“.
81 Athletinnen und Athleten, das bislang größte indische Kontingent bei Olympischen Spielen überhaupt, hat das Land nach London geschickt. Die Sportler treten in 13 Disziplinen an. Die Nation macht sich Medaillenhoffnungen insbesondere in den Disziplinen Schießen, Boxen, Ringen, Bogenschießen, Badminton und Leichtathletik.
Die Erwartungen sind hochgeschraubt. Politiker, Sponsoren und Fans wollen Leistung sehen. Das olympische Prinzip, Dabeisein ist alles, reicht den Indern angesichts der Professionalisierung des Sports und des nationalen Anspruchs, als Großmacht ernst genommen zu werden, längst nicht mehr.
Auf den Commonwealth-Spielen 1010 in Neu Delhi wurde sogar diskutiert, sich um Olympische Spiele zu bewerben. Indien wird 2016, wenn das olympische Feuer in Rio de Janeiro brennt, die einzige Großmacht sein, die noch keine ausgerichtet hat. Doch aus diesem Plan wurde nichts - vorerst.
Jetzt aus London soll das Team auf jeden Fall mehr als die drei Medaillen mit nach Hause bringen. Genau drei Medaillen, Gold im Schießen und zweimal Bronze im Boxen, hatten die indischen Sportler vor vier Jahren in Peking erkämpft. Deshalb muss es diesmal unbedingt mehr sein.
Magere bisherige Ausbeute an Gold, Silber, Bronze
Dabei war Peking für den indischen Sport schon ein kleiner Turnaround. Vier Jahre zuvor in Athen hatte Indien seine erste Silbermedaille in einem Einzelwettbewerb überhaupt gewonnen.
Mit Ausnahme von Kricket, dem indischen Nationalsport, spielt Indien im internationalen Spitzensport nur unter Fernerliefen mit. „Bei Olympischen Spielen fahren indische Sportler das mit Abstand schlechteste Resultat gemessen an der Bevölkerungszahl ein“, beobachtete schon der Schriftsteller Ilija Trojanow („Der Weltensammler“), der mehr als sechs Jahre in Indien lebte, in seinem unterhaltsamen Brevier „Gebrauchsanweisung für Indien“.
In den Spielen von 1896 bis 2008 hat Indien gerade mal 20 Medaillen gewonnen. Von den neun Goldmedaillen haben die Inder allein acht in einem Mannschaftssport, Hockey, errungen. Aber Indiens glorreiche Zeiten im Hockey sind vorbei. Mit Gold rechnen sie hier schon lange nicht mehr. Sie sind schon stolz, dass ihr Hockeyteam überhaupt die Qualifikation für London erreicht hat. Vor vier Jahren war es daran gescheitert – ein Menetekel für den indischen Spitzensport.
Olympische Medaillen bei Sommerspielen 1896 – bis 2008
USA: 931
Russland: 395
Deutschland: 247
China: 163
Indien 9
USA: 729
Russland: 319
Deutschland: 284
China: 117
Indien: 4
USA: 638
Russland: 296
Deutschland: 321
China: 105
Indien: 7
USA: 2298
Russland: 1010
Deutschland: 852
China: 385
Indien: 20
Da tröstet es wenig, dass 80 der 204 in London teilnehmenden Länder überhaupt noch nie eine Medaille gewonnen haben. Was zählt, ist der Vergleich mit den anderen Schwellenländern, vor allem mit dem ungeliebten Nachbarn China, das 2008 sogar erstmals mehr Medaillen einheimste als die USA.
Indien ist keine große Sportnation
Mit dem Leistungssport ist es in Indien wie mit der Infrastruktur. Man möchte sie zwar modernisieren und schon gerne zur Weltspitze gehören, aber staatliche Misswirtschaft, unfähige und korrupte Funktionäre und eingefahrene Traditionen verhindern die Umsetzung der hehren Ziele.
Natürlich spielt auch das wirtschaftliche Entwicklungsniveau eine Rolle. Ein Drittel der Inder leben unter der Armutsgrenze. Das Land braucht sicherlich Vieles dringender als eine Leistungssportförderung wie in den entwickelten Ländern.
Schulsport gibt es, meist aber nur in den privaten Schulen. „Die öffentlichen Schulen haben andere Sorgen“, sagt Johanna Simmons von der Unternehmensberatung Maier + Vidorno in Neu Delhi. Im staatlichen Schulsystem gilt es, vor allem auf dem Land, erst einmal die rudimentären Dinge wie die Gebäude für den Unterricht, die sanitäre Einrichtungen und Lehrmittel sicherzustellen.
Zwar erfreuen sich die Sportwettkämpfe an den Schulen großer Beliebtheit. Jeder möchte schließlich der Beste sein. Aber nach der zehnten Klasse enden die sportlichen Aktivitäten ohnehin meist: Der Wettbewerbsdruck zur Aufnahme an der Highschool ist enorm und die Schüler sollen und wollen sich auf ihre Ausbildung konzentrieren, um einen gut bezahlten Job zu bekommen. Begehrte Berufe, die den sozialen Aufstieg ermöglichen, sind Ingenieur, Rechtsanwalt oder Arzt. Eine Sportkarriere wie etwa in den USA zählt nicht dazu.
„Der Talentpool ist sicherlich vorhanden, wird aber nicht wirklich gefördert“, sagt Mike D. Batra, Geschäftsführer der im Indiengeschäft engagierten Unternehmensberatung Dr. Wamser + Batra. Dabei mögen auch religiöse und kulturelle Gründe von Bedeutung sein, der Hinduismus als weltverneinende Form religiöser Ethik und das Kastensystem, die den Einzelnen in seiner individuellen Entwicklung bremsen. So wird die Berufswahl traditionell von der Familie entschieden.
Staatliche Förderung versickert
Eine Karriere durch Sport ist nur begrenzt möglich und häufig verfehlt die Förderung ihren Sinn. Gewinnt in Indien ein Sportler, der sich bis dahin selbst finanziert hat, eine Medaille in einem wichtigen Wettbewerb, erlangt er einen Vorzugsstatus bei der Vergabe von Regierungsjobs, etwa bei der staatlichen Eisenbahn, erzählt Johanna Simmons.
Dazu fördert das Militär bei seinen Angehörigen Sportarten wie Reiten, Schießen, Ringen und Boxen – auf diesen Disziplinen ruhen denn auch die größten Medaillenhoffnungen.
Immerhin hat Indien in den vergangenen 16 Monaten in den Leistungssport mit Blick auf London 50 Millionen Dollar investiert, zehnmal so viel wie noch im Jahr 2000. Das ist zwar nicht so viel wie in China, das in den zehn Jahren vor den Spielen in Peking 450 Millionen Dollar jährlich für seine Leistungssportler ausgab. Aber immerhin ein Anfang.
Doch haben es die Verantwortlichen in Neu Delhi versäumt, die Sportverbände zu reformieren und in die neue Zeit zu führen. Die Politiker können es vermutlich gar nicht, denn die Sportverbände sind von den gleichen Übeln durchdrungen wie das politische System.
Die Hälfte der 25 olympischen Sportverbände wird von Politikern beziehungsweise früheren Politikern geführt, in vielen Sportarten sitzen unfähige Funktionäre seit Jahrzehnten in den Entscheidungsorganen. Ehemalige Sportler oder international erfahrene Sportmanager haben da nur wenig zu sagen.
Korruption und Nepotismus sind verbreitet. Ein Großteil der staatlichen Fördergelder versickert, bevor es die Sportler erreicht. Der Präsident des Indischen Olympischen Komitees beispielsweise ist angeklagt wegen Korruption im Zusammenhang mit den Commonwealth-Spielen 2010 in Neu Delhi. Bislang konnte er seine Abwahl erfolgreich verhindern.
Aber im Kricket ist Indien Weltmeister
Dass es auch anders geht, zeigt Kricket, das in Indien wie „eine Religion“ ist, sagt Johanna Simmons. Indien ist in dieser Sportart Weltmeister (2011 gegen Sri Lanka), erfolgreiche Spieler werden wie Nationalhelden verehrt. „Keine andere Sportart verzeichnet in einem Land so viele Anhänger, obwohl Kricket lange Zeit ein Zöglingssport der Kolonialherren war“, wunderte sich auch Schriftsteller Trojanow.
Der kleine, aber entscheidende Unterschied: Kricket ist nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen. Hier existiert ein gut ausgebautes privates Fördernetz, die Spiele werden breit im TV übertragen, die IPL (Indian Premier League) ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Sponsoren- und TV-Gelder, Eintrittskarten und Merchandising kommen auf 3,7 Milliarden Dollar jährlich – gut Zweidrittel mehr als die Bundesliga erwirtschaftet.
Dass Kricket in Indien trotz der kolonialen Wurzeln so populär wurde, erklärt Trojanow mit der Geschichte der Sportart. Seinen Wurzeln nach ist es ein Sport der Oberschicht. Nach dem ersten Weltkrieg wurde diese Gentleman-Spiel unter den einheimischen Adligen populär, die mit Vorliebe allerdings nur den Schläger schwangen. Die anderen Aktivitäten überließen sie den Domestiken, schließlich, so Trojanow, war es eines Herrschers unwürdig, einem Ball hinterherzulaufen.
Nach der Unabhängigkeit übernahmen die Unternehmen dann die Prinzenrolle und leisteten sich eigene Teams – so bot Kricket die Chance zum sozialen Aufstieg. Die Mittelschicht erhielt Zugang zu den Eliteschulen, die Kricket unterrichteten und so zum Talentpool wurden. Wohl deshalb kommen die meisten Nationalspieler aus der Mittel- und Oberschicht.
Erfolgreiche private Sportinitiative
Diesen Weg privater Sportförderung gehen inzwischen auch einige indische Milliardäre wie der Stahlunternehmer Lakshmi Mittal oder der Eigner von Indiens größten Unternehmen Reliance Industries, Mukesh Ambani.
Indiens größte Unternehmensgruppe Tata betreibt eine Akademie für Bogenschießen, das IT-Serviceunternehme Infosys eine Athletenschule. Allein der Mittal Champions Trust vergab zehn Millionen Dollar zur Talentförderung für die Olympischen Spiele. Davon profitiert unter anderem die Medaillenhoffnung Mary Kom, Indiens einzige in London startende Boxerin.
Nicht zuletzt wegen der effizienteren privaten Initiative erhoffen sich die Inder in London mehr Medaillen in Peking. Das würde das Land verändern, glaubt ein indischer Sportartikelhersteller. „Medaillen schaffen Helden und Helden Fans“ – natürlich nicht nur im Dienste des nationalen Prestiges, sondern auch im gemeinen Geschäftssinn.
Wenn die Fans ihren Helden nacheifern und aktiv werden, kaufen sie Sportschuhe, Trikots und Boxhandschuhe. Die Kasse klingelt.
Damit die Rechnung aufgeht, haben Indiens Athleten noch eine Woche Zeit. Zum Glück findet ein Großteil der Sportarten, in denen Inder um Medaillen kämpfen, in der zweiten Hälfte statt.
Und vielleicht sollten sich die Inder doch einmal um die Spiele bewerben. Denn als Austragungsland könnten sie sich eine Sportart wünschen. Eine Goldmedaille in Kricket bei Olympischen Spielen in Neu Delhi oder Mumbai, das wäre was – sportlich und geschäftlich.