Langsamer Walzer statt Samba: Im ersten Quartal wuchs die brasilianische Wirtschaft nur um 0,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr – weniger als selbst die schlimmsten Pessimisten vorhergesagt hatten. Die Investitionen schrumpften sogar um 2,1 Prozent. Besserung ist nicht in Sicht. Der Einkaufsmanagerindex fiel jüngst für die Industrie wie auch den Dienstleistungssektor unter die kritische Marke von 50, die eine Kontraktion signalisiert.
Die Volkswirte der HSBC revidierten daraufhin kürzlich ihre Brasilien-Prognose für das Gesamtjahr 2012 von 3,7 auf 2,5 Prozent – und sind damit immer noch optimistisch. Denn dies impliziert, dass die Konjunktur des Schwellenlandes schon bald wieder an zieht.
Der Hoffnungsträger enttäuscht
„Brasilien ist die große Enttäuschung“, konzedieren die HSBC-Ökonomen. Selbst wenn die Wirtschaft in diesem Jahr noch um 2,5 Prozent wachsen sollte, so ist das nur noch ein Drittel so viel wie 2010. Damit ist der Wachstumseinbruch in Brasilien, der nun schon das zweite Jahr in Folge anhält, der stärkste unter den Bric-Staaten. Schon 2011 hatte das größte Land Südamerikas mit 2,7 Prozent hier die Rote Laterne.
Schlusslicht Brasilien Reales Wirtschaftswachstum der Bric-Staaten | |||
| 2010 | 2011 | 2012 |
Brasilien | 7,5 % | 2,7 % | 2,5 % |
Russland | 4,3 % | 4,3 % | 3,0 % |
China | 10,4 % | 9,2 % | 8,4 % |
Indien | 8,2 % | 7,5 % | 5,9 % |
Quelle: HSBC |
Was ist bloß los mit Brasilien? Vor kurzem noch feierte alle Welt das Land als neue Wirtschaftssupermacht. Die meisten Ökonomen prognostizierten für Brasilien ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent jährlich bis 2020. 30 Millionen Einwohner sind in den vergangenen Jahren in die Mittelklasse aufgestiegen, der Konsum wuchs zwischen vier und sieben Prozent jährlich.
„Der Eindruck, Brasilien sei eine reine Rohstoffökonomie, ist falsch“, schreibt WirtschaftsWoche-Korrespondent Alexander Busch in seinem Buch „Wirtschaftsmacht Brasilien“. Das ist sicher richtig. Denn in der Tat hat Brasilien im vergangenen Jahrzehnt große wirtschaftliche Fortschritte erzielt. So hat es eine ganze Reihe international wettbewerbsfähiger Konzerne hervorgebracht wie den Flugzeugbauer Embraer oder der Brauerrei-Riese InBev, die auch die Märkte im Ausland aufrollen.
Erfolge verbuchte das Land vor allem auch bei seinen Finanzen. Nach Jahrzehnten unverantwortlicher Schuldenpolitik und Hyperinflation betreibt die Regierung in Brasilia nun eine solide Finanz- und Geldpolitik. Das Haushaltsdefizit und die staatliche Verschuldung sind verglichen mit den problematischen Eurostaaten marginal. Mit Devisenreserven in Höhe von 370 Milliarden Dollar, davon allein 170 Milliarden in den vergangenen vier Jahren, scheint Brasilien gewappnet für eine führende Rolle unter den Schwellenländern, die das Schicksal der Weltwirtschaft in den nächsten Jahrzehnten dominieren werden.
Immer noch zu abhängig vom Rohstoffexport
Doch nun zeigt sich: Obwohl der Grundstoffsektor nur noch weniger als zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, ist Brasiliens Wirtschaftsstruktur einseitig. Sein Export besteht immer noch zu fast zwei Dritteln aus landwirtschaftlichen Produkten und Bodenschätzen. Im vergangenen Jahrzehnt hatte die stürmische Rohstoffnachfrage der aufstrebenden Riesen China und Indien für steigende Preise bei Öl, Nahrungsmittel und Metallen gesorgt und damit Brasiliens Wirtschaftswachstum beschleunigt.
„Das Land ist im Einklang mit der steigenden Nachfrage nach Öl, Kupfer, Eisenerz und anderen natürlichen Ressourcen gewachsen“, analysiert Ruchir Sharma von der Investmentbank Morgan Stanley in einem Beitrag für die Zeitschrift „Foreign Affairs“. „Das Problem ist, dass der globale Appetit für diese Rohstoffe zu fallen beginnt.“
Seit einigen Monaten kühlt nämlich die globale Wirtschaft ab, nicht nur Europa und die USA, auch die Wachstumstreiber China und Indien büßen an Dynamik ein und fragen weniger Rohstoffe nach. Parallel gerieten die Rohstoffpreise unter Druck, sie sind seit Juni 2011 im Schnitt um 17 Prozent gefallen. Mit Ausnahme von Sojabohnen betrifft dies Brasiliens wesentliche Exportprodukte Kupfer, Eisen, Kaffee und Zucker, mit Ausnahme von Sojabohnen.
Die Folge: Die Exporte, die sich auf Dollarbasis zwischen 2006 und 2011 fast verdoppelten und Brasiliens Wirtschaftswachstum anheizten, dürften in diesem Jahr laut HSBC stagnieren. Brasiliens Wirtschaftswachstum ist immer noch eng an das volatile Auf und Ab der Rohstoffmärkte gekoppelt. „Seit den frühen Achtzigerjahren oszilliert Brasiliens Wachstum um 2,5 Prozent jährlich, nur bei steigenden Rohstoffpreisen liegt es darüber“, analysiert Sharma.
Schwache Industrie, zu wenig Investitionen
Die Ursache des niedrigen Trendwachstums liegt in der strukturellen Schwäche des industriellen Sektors. Die HSBC-Ökonomen machen „Probleme bei der Wettbewerbsfähigkeit“ der Industrie aus. So ist der Anteil der Verarbeitenden Industrie von 16,5 Prozent des BIP 2004 bis 2010 auf 13,5 Prozent geschrumpft. Zwar wuchs die Industrieproduktion 2010, im ersten Jahr nach der Weltwirtschaftskrise, um mehr als zehn Prozent, aber seitdem stagniert sie.
Für die brasilianische Wirtschaft insgesamt diagnostiziert Sharma eine „chronische Unterinvestition“. Die gesamtwirtschaftlichen Investitionen liegen mit einem Anteil von 19 Prozent am unteren Ende der Schwellenländer. Nur zwei Prozent seines BIP investiert Brasilien, um seine unterentwickelte Infrastruktur zu modernisieren. Im Schnitt liegt dieser Wert für die Schwellenländer bei fünf Prozent.
Dazu kommt ein eklatanter Fachkräftemangel, Resultat eines mangelhaften, unterfinanzierten Bildungswesens. Im Schnitt verbringen die Jugendlichen nur sieben Jahre in der Schule, die niedrigste Rate in den Ländern mit mittlerem Einkommen. Die Ignoranz von Bildung geht einher mit einer immer noch vorherrschenden „kolonialen Mentalität“ beim Arbeitsethos, die Alexander Busch so beschreibt: „Jeder Brasilianer, von der Putzfrau bis zum Unternehmer, fühlt sich erst dann richtig erfolgreich, wenn andere die Arbeit für ihn erledigen.“
Protektionismus lähmt Innovationen
Kein Wunder, dass die Produktivität im Lande zu langsam zunimmt, so dass mit Ausnahme einiger weniger Großkonzerne die meisten Unternehmen international nicht wettbewerbsfähig sind. Die Regierung unternimmt denn auch keine Anstalten, die eigenen Unternehmen dem scharfen Wind des internationalen Wettbewerbs auszusetzen, sondern schützt die Binnenwirtschaft durch hohe Zölle auf fast alle Importprodukte.
Brasilien ist trotz seiner immensen Rohstoffexporte eines der am meisten protektionistischen Länder der Welt. Im Global Enabling Trade Report, der eine Rangliste über die Offenheit der nationalen Märkte erstellt, liegt Brasilien bei der Höhe der Zölle auf Rang 114 von 132 untersuchten Ländern.
Präsidentin Dilma Roussef glaubt, dass sich das Land aufgrund seines gewaltigen Binnenmarktes diesen Kurs leisten könne. Sie hat die Einfuhrzölle auf Neuwagen Anfang des Jahres um 30 Prozentpunkte erhöht und die Steuer auf Neuwagen aus brasilianischer Fertigung gesenkt. Damit will sie die Autohersteller zu Investitionen in Brasilien zwingen. Doch freuen sich darüber vor allem die vor Ort präsenten Konzerne VW, Fiat, GM und Ford, die den Markt unter sich aufgeteilt haben.
Die Lektion aus Brasiliens Wachstumseinbruch lautet: Wenn das Land sich weiterhin vom internationalen Wettbewerb abschottet, wenn es nicht mehr in Bildung und Infrastruktur investiert, wird es kein Innovationsklima schaffen und die Industrie international weiter hinterherhinken. Die Folge wird sein, dass die Abhängigkeit Brasiliens vom Export seiner natürlichen Ressourcen zementiert und es weiter Spielball der volatilen Preisausschläge auf den internationalen Rohstoffmärkten sein wird.
Die Regierung in Brasilia steht vor gewaltigen Reformen, will Brasilien weiterhin eine führende Position unter den großen Schwellenländern beanspruchen, die in den nächsten Jahrzehnten die globale Wirtschaft bestimmen werden.