
Der China-Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem halben Kabinett und einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation in der vergangenen Woche zeugt von den Sorgen, die sie sich um die eigene Wirtschaft macht. Angesichts der rezessionsschwangeren Zeiten in Europa und der schwachen US-Konjunktur ist die Freude über einige Milliardenaufträge nur zu verständlich. Aber ist die Hoffnung, dass China die deutsche Exportwirtschaft wie in der Finanzkrise 2009 rettet, überhaupt berechtigt?
Sicher, China ist heute die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, Exportweltmeister und weltweit größter Kreditgeber. Die deutschen Unternehmen konnten den Anteil ihrer China-Exporte im vergangenen Jahrzehnt auf über sechs Prozent verdreifachen.
Als sogenanntes S5-Land ist China systemrelevant – auch für uns
Doch die neue Abhängigkeit ist nicht ungefährlich. Der Internationale Währungsfonds zählt China denn auch seit der Finanzkrise zusammen mit den USA, Japan, der Eurozone und Großbritannien zu den sogenannten S5 – das sind die fünf für die Weltwirtschaft systemrelevanten Länder. Soll heißen: Eine Krise in einem dieser Länder beziehungsweise Regionen bleibt nicht lokal begrenzt, sondern hat weltweit gravierende Folgen – Beispiel Immobilienkrise der USA oder aktuell die Euro-Schuldenkrise.





Fährt China jetzt seine Bestellungen zurück, weil die Konjunktur dort zusammenkracht, können wir uns das für dieses Jahr noch erwartete Mickerwachstum abschreiben. Wenn in China also der sprichwörtliche Sack Reis umfällt, kann uns das nicht mehr egal sein. Hieß es früher, wenn die USA Schnupfen haben, bekommen wir eine Lungenentzündung, so gilt das heute in Bezug auf China. Und China hüstelt schon recht vernehmlich. Die chinesische Wirtschaft ist auf Talfahrt. Nach einem Wachstum von 8,1 Prozent im ersten Quartal ist es weiter auf 7,6 Prozent im zweiten Quartal gefallen, der niedrigste Wert seit drei Jahren.
Das klingt nach Jammern auf hohem Niveau. Doch verglichen mit den zweistelligen Zuwachsraten der Vergangenheit ist der Einbruch erklecklich. Zudem beschäftigt sich Peking derzeit mehr mit sich selbst als mit der Frage, wie die Wirtschaft wieder auf Kurs gebracht werden kann. Nach der Entmachtung des früheren Parteichef von Chongqing, Bo Xilai, wirkt die KP-Führung derzeit wenig handlungsfähig. Angesichts der bevorstehenden Machtübergabe an die nächste Generation der Parteiführung geht es den Kadern offenbar vor allem darum, sich selbst in Position zu bringen und nicht angreifbar zu machen.
Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob man den offiziellen Wachstumszahlen überhaupt trauen kann und ob die wirkliche Lage nicht bereits viel schlimmer ist? Manche Beobachter vermuten, dass China die sensiblen Statistiken vor dem Hintergrund des Parteitags im Herbst bewusst fälscht, damit es in der Bevölkerung nicht zu Unruhen kommt.





"Die Kader machen die Zahlen, und die Zahlen machen die Kader"
Denn die offizielle Statistik ist voller Widersprüche. So addieren sich die im vergangenen Jahr von den Provinzen für das BIP angegebenen Zahlen auf einen Wert, der etwa zehn Prozent über dem nationalen Wert des Pekinger Statistikamtes liegt, offenbarte selbst der Chef des Statistikamtes, Ma Jiantang.
Grund ist, dass die Karrierechancen der lokalen Funktionäre von der wirtschaftlichen Performance in ihrem Verantwortungsbereich abhängen. Zwar werden die Kader nicht mehr nur am BIP-Wachstum gemessen, sondern inzwischen auch nach anderen Faktoren bewertet. Aber gegenüber der Zentrale wollen die lokalen Kader gut aussehen und hübschen ihre Zahlen gerne auf. Die Chinesen haben für dieses Verhalten einen schönen Spruch: „Die Kader machen die Zahlen, und die Zahlen machen die Kader.“
Aus Misstrauen gegenüber den offiziellen Wachstumszahlen, erzählte der designierte nächste Ministerpräsident Li Keqiang, dass er auf drei Indikatoren schaut, um die tatsächliche Aktivität der chinesischen Wirtschaft zu erkennen: Bankkredite, Elektrizitätsverbrauch und Bahnfrachtvolumen. Ökonomen haben aus den drei Zeitreihen einen Index gebastelt, den sogenannten Li-Keqiang-Index. In der Tat weicht dieser in der Vergangenheit stark von den offiziellen Wachstumszahlen ab – nach oben wie nach unten.