Aus wirtschaftlicher Not Immer mehr Argentinier zieht es nach Europa

Tomás Ruiz wird von Argentinien nach Irland auswandern. Am Flughafen umarmt er ein letztes mal seinen Vater, bevor er in den Flieger steigt. Quelle: AP

Sie sind Argentinier und Abkömmlinge von Europäern. Jetzt zieht es sie in die Heimat ihrer Vorfahren – auf der Flucht vor Hyperinflation und Arbeitslosigkeit. Schon mehrfach kamen sie zu Tausenden nach Europa.

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Auf dem Flughafen von Buenos Aires umarmt Tomás Ruiz seinen Vater ein letztes Mal, bevor er die Maschine besteigt, die ihn nach Irland bringen soll. Eine ähnliche Abschiedsszene hatte sich unlängst mit seiner Schwester abgespielt: Sie verließ die Familie, um nach Spanien zu ziehen. Beide Geschwister besitzen neben ihrem argentinischen einen europäischen Pass, sind europäische Staatsbürger durch Abstammung. Und nun kehren sie in die Heimatländer ihrer Großeltern zurück – weit entfernt von Argentiniens Inflation, hoher Arbeitslosigkeit und krassem Verfall der Währung.

„Die Lage in meinem Land hat mich zu dieser Entscheidung gebracht“, sagte Ruiz, während er daheim seine Sachen packte. „Es war frustrierend, ständig an einem Abgrund zu leben, es kaum zu schaffen, sich bis zum Ende des Monats durchzuhangeln.“ Ruiz steht mit seinem Entschluss nicht alleine da. Die wirtschaftliche Unsicherheit bringt immer mehr junge Argentinier dazu, in Europa ein neues Leben zu suchen.

Es gibt zwar keine offiziellen Statistiken darüber, wie viele es mittlerweile sind. Argentinier, die das Land verlassen, müssen keine Angaben über ihr Ziel oder die Dauer ihrer Abwesenheit machen, und damit sei es praktisch unmöglich, die Zahl der Auswanderer zu erfassen, erklärt die Immigrationsbehörde. Aber Forschungsgruppen, Beraterfirmen und andere Stellen sprechen übereinstimmend von einem Anstieg.

Ruiz hat sich wirklich bemüht, in Argentinien klarzukommen. Er studierte Gastronomie und war als Manager eines Cafés in Buenos Aires angestellt. Aber was er verdiente, reichte trotz zahlreicher Überstunden nicht, wenigstens ein bisschen Geld zur Seite zu legen. So hatte er vor seinem Abflug nach Dublin monatelang bei seiner Mutter gelebt, um Miete zu sparen. Aber eine Dauerlösung war das freilich nicht – und die hofft er nun in Irland zu finden.

Es ist nicht das erste Mal, dass Argentinier in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit Zuflucht in Europa suchen. Hunderttausende wanderten auf den alten Kontinent aus, um in den frühen 1990er Jahren einer Hyperinflation und 2001/2002 einem wirtschaftlichen Zusammenbruch daheim zu entgehen.

Jetzt macht wieder ein massiver Kaufkraftverlust den Menschen zu schaffen: Die Jahresinflationsrate liegt bei fast 50 Prozent, eine der höchsten weltweit. Großen Unmut hat zudem die Entscheidung von Präsident Mauricio Macri ausgelöst, Subventionen zu kürzen – ein Schritt, der Strom, Wasser und die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel stark verteuert hat.

Der argentinische Peso hat im vergangenen Jahr mehr als die Hälfte seines Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren. Die Regierung war gezwungen, den Internationalen Währungsfonds um ein Rettungspaket in einer Rekordhöhe von 56 Milliarden Dollar ersuchen.

„Als ein Resultat der wirtschaftlichen Krise und Abwertung denken mehr junge Berufstätige an eine Zukunft in Europa“, sagt Alejandro Servide von Randstad Argentina, der argentinischen Niederlassung des zweitgrößten Personaldienstleisters der Welt.

Wird es eine Welle wie vor 17 Jahren, als Argentinien seine bisher schlimmste Wirtschaftskrise erlebte? Damals stürzten Millionen Menschen in die Armut, mehr als 20 Prozent der Bevölkerung waren arbeitslos. Berichten zufolge litten viele an Hunger – in einem Land, das zu den größten Produzenten von Rindfleisch, Soja und Weizen zählt.

„Wenn Argentinien durch derartige tiefgreifende Krisen geht, suchen Menschen Optionen, so wie 2001 bis 2002, als fast 800.000 Argentinier ins Ausland gingen“, sagt Ariel Gonzalez vom Zentrum für Internationale Studien an der Katholischen Universität von Argentinien. „Wir erleben zurzeit vielleicht die Anfangsphase. Das bedeutet, dass es einen Teil der Gesellschaft – Berufstätige der Mittel-und Oberschicht – gibt, der Plan B ins Auge fasst. Und dieser Plan lautet, dass Auswandern eine Option wäre, wenn sich die Krise verschärft.“

Servide zufolge führt Randstad Argentina im Rahmen von Erhebungen etwa 160 Interviews und will dabei unter anderem wissen, ob der oder die Befragte an einem Leben im Ausland interessiert wäre, wenn es die Chance dazu gäbe. „Ungefähr 80 Prozent antworten mit ja“, schildert der Experte.

Handelskriege, Brexit und hohe Schulden: Die Weltwirtschaft wächst so langsam wie seit der Finanzkrise vor zehn Jahren nicht mehr. Auch das Autoland Deutschland ist für den Rückgang mitverantwortlich.

Manuel Miglioranza hat sich bereits entschieden. Der 26-jährige Anwalt zieht nächsten Monat nach Toulouse in Frankreich. Er besitzt zwar nur die argentinische Staatsbürgerschaft, aber will Französisch lernen und dann einen Job suchen – auf der Basis einer befristeten Arbeitserlaubnis, die dank einer Vereinbarung zwischen den beiden Ländern möglich ist. „Ich kenne viele Menschen, die das Land verlassen“, sagt der junge Mann.

Im 19. Jahrhundert war es umgekehrt gewesen: Millionen Europäer flohen damals vor Krieg und Armut nach Argentinien. Das lateinamerikanische Land ist stolz darauf, dass es so vielen Menschen Zuflucht und ein neues Leben ermöglicht hat. „Vier der vergangenen sechs Präsidenten waren Immigranten-Söhne der ersten Generation“, sagt Horácio Garcia, Direktor der argentinischen Migrationsbehörde.

Die spanische Regierung hat kürzlich ein besonderes Programm gestartet: Demnach kann eine begrenzte Zahl von in Argentinien lebenden Abkömmlingen spanischer Staatsbürger ein spezielles dreimonatiges Arbeitsvisum erwerben – ohne spanischen Pass. Wenn sie einen Job gefunden haben, können sie selber die spanische Staatsbürgerschaft beantragen und ihre Familien zu sich holen. Mitte 2018 waren mehr als 76.000 Argentinier offiziell in Spanien registriert.

Paz Pucheu lebt dort seit 2017, arbeitet als Ansagerin bei einem Radiosender in Barcelona. „Argentinien war wie andere lateinamerikanische Länder eine spanische Kolonie“, sagt sie. „Unter uns Freunden geht jetzt der Scherz um, dass wir unsere Kolonisatoren kolonisieren.“

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