Außenminister sucht seine Rolle Frank-Walter Steinmeier gibt Russland eine Chance

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Außenpolitische Strategie

Immerhin hat die Bundesregierung erkannt, dass die Deutschen in einer multipolaren Welt nicht am Rocksaum der Amerikaner kleben können, zumal die verstärkt nationale denn transatlantische Interessen verfolgen. Europa ist zwar wirtschaftspolitisch groß genug, um China oder den USA auf Augenhöhe zu begegnen, außen- und sicherheitspolitisch nimmt die Welt den 28-Stimmen-Chor der Europäer aber nicht ernst. Was das Ausland konkret von Deutschland erwartet, will Frank-Walter Steinmeier mit einem Experiment namens Review herausfinden. Bis Ende des Jahres werden Experten aus aller Welt nach ihrer Meinung gefragt – im Frühjahr sollen die dann in eine außenpolitische Strategie einfließen. Das ist weltweit einmalig und spricht für die Offenheit der Deutschen. Egal, wohin die Reise geht – schon jetzt hat Frank-Walter Steinmeier die Diplomatie aus ihrem Dornröschenschlaf geküsst: Selbstbewusstsein kehrt zurück, denn mit Steinmeiers Comeback erobern sich die Diplomaten ihre Deutungshoheit über außenpolitische Themen zurück; zuvor hatten sie moniert, Christoph Heusgen baue sich als Berater der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ein „Neben-Außenministerium“ auf. Dies lag auch daran, dass der vormalige Außenamtschef Guido Westerwelle (FDP) auf dem internationalen Parkett stets blass geblieben war. Zwar konnte er auch auf Englisch gut reden, ein echter Vermittler ist er aber nie geworden: In Konfliktlagen zeigte sich das Auswärtige Amt oft empört und verurteilte schnell – und dabei blieb es stets. Derlei Verbalblamagen sind unter Steinmeier selten geworden.

Überhaupt wirkt Steinmeier wesentlich unverkrampfter als Westerwelle, der gleich zu Beginn seiner Amtszeit unberechtigt der Bevorzugung von FDP-Spezis bei Ministerreisen bezichtigt wurde (und danach oft gar keine Unternehmer mehr mit auf Reisen nahm). Der neue alte Außenminister nimmt bei jeder zweiten Reise Geschäftsleute Huckepack. Die Mexiko-Reise wirkt wie ein Erholungsaufenthalt für Steinmeier: Wirtschaftlich läuft es rund in diesem relativ offenen Land, wo 1700 deutsche Unternehmen investiert sind. „Mexiko ist als Brücke zwischen Nord- und Südamerika ein geradezu idealer Standort für deutsche Unternehmen“, sagt Steinmeier. „Unsere Interessen überschneiden sich in vielen Bereichen, etwa in der Klima- oder Handelspolitik.“ Auf solche Bündnisse kommt es schließlich an in einer Zeit, da die Werte- und Regelsetzungsdominanz des Westens vorbei ist. Anders als Westerwelle lockt Steinmeier dass Bad in der Menge nicht, das Bierzelt ist dem Tischlersohn aus Ostwestfalen stets fremd geblieben. „Seinem Naturell entspricht es eher, stundenlang nach Kompromissen zu suchen“, sagt Volker Perthes, der ihn als Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik gut kennt.

Zusehends fühlt sich Steinmeier wohler, als am zweiten Reisetag die Ukraine-Lage etwas sortierter ist. Sein Tross ist in die Provinz Guanajuato geflogen, wo er die neue Nivea-Fabrik von Beiersdorf eröffnet. Noch am Flughafen hat er sich den Schlips vom Hals gerissen, als ihn der braun gebrannte Gouverneur überaus leger begrüßt. Nun klammert sich der Minister mit beiden Händen ans Rednerpult und sagt: „Die Fernsehzuschauer sehen mich ja meist, wenn ich in Krisengebiete reise. Aber ich bin froh, hier zu sein, denn hier bin ich am richtigen Platz.“ Bei Investoren wie Beiersdorf sehe man nämlich, wie „zwei Nationen an ihrer gemeinsamen Zukunft arbeiten“. Am Ende drückt Steinmeier auf den Start-Button und wundert sich ein bisschen, als ein Ton ertönt und hinter ihm wirklich das Band anläuft.

Weiche Faktoren

In Europa ist es nicht so leicht wie hier, Dinge in Bewegung zu setzen. Es war ein Gedanke aus Steinmeiers erster Amtszeit, Russland über eine Modernisierungspartnerschaft politisch enger zu binden. Wenn ein autoritäres Land über weiche Faktoren wie Technologietransfer oder Berufsausbildung die Vorzüge des „deutschen Modells“ kennenlernt, so das Kalkül damals, wird das auch auf die Politik abfärben. Diese „Wandel durch Handel“-Theorie, die auf die SPD-Ostpolitik zu Sowjetzeiten zurückgeht, nahm die Wirtschaft als Persilschein für Geschäfte in Autokratien dankend an.

Heute gibt sich Steinmeier in Mexiko keine Mühe mehr, die Beziehungen mit den Prädikaten „strategisch“ oder „Modernisierung“ zu versehen. In der Russlandpolitik ist das klug gedachte Konzept gescheitert – und eine Konsequenz ist die Ukraine-Krise, die den Minister bis ins fast 10.000 Kilometer entfernte Mexiko verfolgt.

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