Es ist bemerkenswert, mit welchem Programm Annalena Baerbock an diesem Donnerstag ihre erste China-Reise als Außenministerin beginnt: Sie startet beim Bocholter Getriebehersteller Flender, der in der 13-Millionen-Einwohner-Stadt Tianjin Antriebskomponenten für Windkraftanlagen produziert. Mehr als 1000 Einheiten verlassen nach Unternehmensangaben jährlich das Werk auf dem 16.000 Quadratmeter großen Gelände, das als eines der weltweit größten Werke für mittelschnelle Antriebssysteme in der Windbranche gilt – die grüne Zukunft, sie wird in China zusammengeschraubt.
Eine Stunde will sich Baerbock Zeit nehmen für den Besuch des Unternehmens, das 1899 gegründet wurde, weltweit mehr als 8500 Mitarbeiter beschäftigt und seit 2020 nach einem Zwischenspiel bei Siemens zur amerikanischen Carlyle Group gehört. Gilt für ihren Antrittsbesuch in China also: Wirtschaft first, alles andere second?
Die Abhängigkeit Deutschlands wächst
Das wird die grüne Ministerin freilich anders sehen, die wertegeleitete Außenpolitik betreiben will – doch wie schwer Wunsch und Wirklichkeit zusammen zu bringen sind, dürfte in China mehr als deutlich werden.
Die Volksrepublik ist seit Jahren Deutschlands wichtigster Handelspartner, trotz regelmäßiger Menschenrechtsverletzungen wie etwa Folter und Zwangsarbeit bei der muslimischen Minderheit der Uiguren. Und erst am Wochenende wurden wieder zwei Menschenrechtsanwälte zu langen Haftstrafen verurteilt.
Während Baerbock und der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck von Unternehmen vehement mehr Diversifizierung einfordern, wird Deutschlands Abhängigkeit von China immer größer: Auf mehr als 84 Milliarden Euro ist das Handelsdefizit 2022 angewachsen, eine Verdopplung im Vorjahresvergleich, zeigt eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft. Was also nun: mehr oder weniger China wagen?
Macron macht es Baerbock umso schwerer
Für Baerbock ist der Besuch, der sie auch am Freitagmorgen zuerst zur chinesischen Niederlassung eines deutschen Automobilzulieferers führt und anschließend per Schnellzug in die Hauptstadt Peking, die bisher wohl heikelste Reise ihrer Amtszeit. Durch Äußerungen von Emmanuel Macron ist sie nun zusätzlich erschwert – oder erleichtert, je nach Lesart. Denn was für den einen zum PR-Desaster wurde, kann für die andere zum Coup werden. Kann.
Der französische Staatspräsident Macron hatte unmittelbar nach seinem Besuch bei Staatschef Xi Jinping davor gewarnt, dass sich Europa beim Konflikt um Taiwan nicht in eine fremde Krise hinziehen lassen und zum Vasall Amerikas machen lassen dürfe. Europa müsse seine Abhängigkeit von den USA reduzieren und zur „dritten Supermacht“ werden. Von klarer Kante gegen China war dagegen wenig zu hören.
Worum geht es bei dem Streit um Taiwan?
Der kommunistische Machtanspruch geht auf die Gründungsgeschichte der Volksrepublik China zurück. Nach der Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Kommunisten zog die nationalchinesische Kuomintang-Regierung mit ihren Truppen nach Taiwan, während Mao Tsetung 1949 in Peking die Volksrepublik ausrief. Der heutige Staats- und Parteichef Xi Jinping sieht eine „Vereinigung“ mit Taiwan als „historische Mission“.
Stand: September 2023
Die Insel zwischen Japan und den Philippinen hat große strategische Bedeutung. US-General Douglas MacArthur bezeichnete Taiwan einst als „unsinkbaren Flugzeugträger“ der USA. Eine Eroberung durch China wäre ein wichtiger Baustein in dessen Großmacht-Ambitionen, weil es das Tor zum Pazifik öffnen würde.
China zwingt jedes Land, das diplomatische Beziehungen mit Peking haben will, keine offiziellen Kontakte mit Taiwan zu unterhalten. Es ist vom „Ein-China-Grundsatz“ die Rede. Danach ist Peking die einzige legitime Vertretung Chinas. Auf chinesischen Druck wurde Taiwan aus den Vereinten Nationen und internationalen Organisationen ausgeschlossen. Nur wenige kleinere Länder unterhalten noch diplomatische Beziehungen. Deutschland oder die USA betreiben nur eine inoffizielle Vertretung in Taipeh.
Die Taiwaner verstehen sich mehrheitlich längst als unabhängig und wollen zumindest den Status quo wahren. Auch wollen sie als Demokratie international anerkannt werden und sich keinem diktatorischen System wie in Festlandchina unterwerfen. Die frühere Kuomintang-Regierung hatte einst selber einen Vertretungsanspruch für ganz China, was sich bis heute im offiziellen Namen „Republik China“ widerspiegelt. Dieser Anspruch wurde 1994 aufgegeben. Damals wandelte sich Taiwan von einer Diktatur zu einer lebendigen Demokratie. Jede Veränderung des Status quo müsste aus Sicht der Regierung heute demokratisch von den 23 Millionen Taiwanern entschieden werden.
Experten gehen davon aus, dass ein Krieg um Taiwan massive und größere Auswirkungen hätte als der Angriff Russlands auf die Ukraine - auch auf Deutschland. Taiwan ist Nummer 22 der großen Volkswirtschaften, industriell weit entwickelt und stark mit der Weltwirtschaft verflochten. Ein Großteil der ohnehin knappen Halbleiter stammen von dortigen Unternehmen. Wegen der großen Abhängigkeit vom chinesischen Markt wären deutsche Unternehmen massiv betroffen, wenn ähnlich wie gegen Russland wirtschaftliche Sanktionen gegen China verhängt werden sollten.
Stand: September 2023
Baerbock warnt vor „Horrorszenario“
Dass sie die Dinge anders sieht, machte Baerbock schon vor ihrem Abflug deutlich. Eine militärische Eskalation in der Taiwanstraße, durch die täglich 50 Prozent des Welthandels fließen, nennt sie ein „Horrorszenario“.
Es wäre „inakzeptabel“, wenn der Status Quo einseitig verändert würde, das sei auch „die gemeinsame europäische Überzeugung”, betonte Baerbock, die offenbar darum bemüht ist, die Scherben zusammen zu kehren, die Macron hinterlassen hat. Doch vor dem Abflug ist das mit der klaren Kante immer leichter als vor Ort.
China-Chaos in der Ampel-Koalition
Denn sowohl China als auch die USA werden sehr genau hinschauen, wie Baerbock der Balance-Akt gelingt, weder die eine noch die andere Seite zu verprellen. Dass sich die Ampel-Koalition dabei selbst noch immer nicht auf einen gemeinsamen Chinakurs geeinigt hat, macht das Austarieren allerdings umso schwieriger.
Die Regierung ringt seit Monaten um ihre Chinastrategie, wichtige Investitionen werden deshalb bisher aus einer Mischung zwischen Pragmatismus und Ad-Hocismus geprüft.
Hin und Her um Cosco und Huawei
Als die chinesische Staatsreederei Cosco etwa eine Beteiligung beim Hamburger Hafenterminal Tollerort anstrebte, erlaubte Kanzler Olaf Scholz (SPD) kurz vor seiner ersten China-Reise im November 2022 den Teileinstieg gegen den Protest von sechs Ministerien und der Nachrichtendienste. Doch nun steht die Beteiligung wieder auf der Kippe, weil Häfen und Terminals seit Jahresbeginn zur kritischen Infrastruktur gehören.
Auch in der 5G-Frage geht es Hin und Her. Durften die Mobilfunkhersteller erst Komponenten von chinesischen Herstellern wie Huawei nutzen, mussten sie dem Innenministerium nun bis zum 4. April auflisten, welche Teile sie von wem verbaut haben. Grund sind Sicherheitsbedenken, die Huawei stets zurückweist. Ein möglicher Ausbau der Komponenten wird zwar diskutiert, doch realistisch sein dürfte er nicht – weder mit Blick auf die Kosten noch darauf, dass Deutschland sich nicht noch weiteren Verzögerungen bei der digitalen Infrastruktur erlauben kann. Und auch, weil sich die Koalition in der Huawei-Frage bisher ebenfalls nicht einig ist.
„Partner, Wettbewerber, systemischer Rivale”
Der Schlingerkurs dürfte nicht nur chinesische Investoren und deutsche Unternehmen zunehmend irritieren, sondern ebenso Partner wie die USA, die sich fragen, wie Deutschland die geopolitische Gretchenfrage beantworten will: Wie halten wir es mit China?
„Partner, Wettbewerber, systemischer Rivale”, das sei der Kompass der europäischen China-Politik, sagte Baerbock vor ihrem Abflug. In welche Richtung die Nadel künftig ausschlage, liege auch daran, welchen Weg China wähle, mahnte sie: „Für unser Land hängt viel davon ab, ob es uns gelingt, unser zukünftiges Verhältnis mit China richtig auszutarieren”.
De-Risking, aber kein Decoupling
Zwar habe Deutschland an einer wirtschaftlichen Entkopplung „kein Interesse – dies wäre in einer globalisierten Welt ohnehin schwer möglich”, sagte Baerbock: „Aber wir müssen die Risiken einseitiger Abhängigkeiten systematischer in den Blick nehmen und abbauen”, erklärte sie, „im Sinne eines De-Risking.” Wie das trotz der wachsenden Abhängigkeit gelingen soll, ist allerdings fraglich.
Doch die Zeit drängt offensichtlich. Kurz nach Macrons Abreise hatte China ein mehrtägiges Militärmanöver vor der Insel geprobt. Es gebe keinen Zweifel daran, dass China einen Angriffskrieg beginnen werde, warnt Taiwans Botschafter in Berlin: „Es ist längst nicht mehr die Frage, ob China Taiwan annektieren wird, sondern wann“, sagte Jhy-Wey Shieh Ende 2022 im Interview mit der WirtschaftsWoche.
China wolle „eine neue Weltordnung“ schaffen, erläutert auch Volker Stanzel, Deutschlands ehemaliger Botschafter in der Volksrepublik. Wie der Westen auf solche Angriffskriege reagiere, schaue sich Xi gerade sehr genau in der Ukraine an.
Wie der Krieg „schnellstmöglich, dauerhaft und gerecht” beendet werden könne, will Baerbock in China ansprechen. „Als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen trägt China eine besondere Verantwortung für den Weltfrieden”, mahnte Baerbock, die auch Chinas Menschenrechtsverletzungen thematisieren und Vertreter der Zivilgesellschaft treffen will.
Am Wochenende geht es für die Außenministerin weiter nach Seoul und nach Tokio zum Treffen der G7-Außenminister, im Frühsommer sollen dann die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen in Deutschland stattfinden – ob sich die Ampel-Koalition bis dahin auf ihre Chinastrategie geeinigt haben wird, ist allerdings fraglich.
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