Aussetzung von Patenten „Beispielloser Schritt, der unseren globalen Kampf untergräbt“

Die Patente für die Corona-Impfstoffe sollen ausgesetzt werden, damit mehr Firmen in mehr Staaten Impfstoffe herstellen können. Quelle: dpa

Corona-Impfungen für alle, so schnell wie möglich: Um das zu erreichen, wollen die USA zeitweise keine Impfstoff-Patente gelten lassen. Das stößt bei Herstellern auf wenig Zustimmung. Das sei keine Lösung, sagt etwa der Biontech-Chef.

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Seit dem ersten in Deutschland erteilten Patent im Jahr 1877 ist viel Zeit vergangen. Die Idee, mit einem solchem Verfahren Innovationen zu schützen, indem Nachahmungen geahndet werden, bestimmt aber noch immer Wirtschaft und Forschung. So wie sich im 19. Jahrhundert Johann Zeltner von der Nürnberger Ultramarin-Fabrik das „Verfahren zur Herstellung einer rothen Ultramarinfarbe“ schützen lassen wollte, sind Firmen weltweit auch in der heutigen Zeit noch bemüht, ihre Ideen vor der Konkurrenz zu bewahren. Doch was, wenn eine Erfindung ein Übel in der Welt vernichten könnte? Etwa so, wie die derzeitigen Corona-Impfstoffe?

Die Diskussion um die geistigen Eigentumsrechte an den Corona-Impfstoffen hat jedenfalls am Mittwoch ordentlich Fahrt aufgenommen. Die US-Regierung verkündete, dass sie die Aussetzung von Patenten für Corona-Impfstoffe unterstützt. So will das Land das Virus weltweit eindämmen. Die USA stünden hinter dem Schutz geistigen Eigentums, die Pandemie sei aber eine globale Krise, die außerordentliche Schritte erfordere, erklärte die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai in Washington. Das Ziel sei, „so viele sichere und wirksame Impfungen so schnell wie möglich zu so vielen Menschen wie möglich zu bringen.“

Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, sprach von einer „historischen Entscheidung“ der USA. Damit könne der globalen Ungleichheit bei der Verteilung der Impfstoffe begegnet werden, um gemeinsam daran zu arbeiten, „diese Pandemie zu beenden“, schrieb er auf Twitter. Hilfsorganisationen, darunter zum Beispiel Ärzte ohne Grenzen, hatten bereits zuvor vehement eine Aussetzung der Patente gefordert.

Die Handelsbeauftragte Tai erklärte, die USA würden sich im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) für die Erstellung eines Abkommens zur Aussetzung der Patente einsetzen. Wegen des Konsensprinzips der WTO und der Komplexität der Materie könnte dies aber zeitaufwendig werden, warnte sie. Den USA kommt bei den Verhandlungen als weltgrößte Volkswirtschaft eine Schlüsselrolle zu.

Und die Amerikaner sind längst nicht allein mit dem Vorhaben: Mehr als 100 WTO-Mitgliedsländer wollen die Patente für die Impfstoffe aussetzen, damit mehr Firmen in mehr Staaten Impfstoffe herstellen können. Wichtige Herkunftsländer der Pharmaindustrie wie auch die USA blockierten das von Südafrika und Indien angestoßene Vorhaben allerdings bislang. Schon seit einiger Zeit werfen ärmere Staaten den Industrieländern vor, die vorhandene Impfstoffproduktion aufgekauft zu haben und eine Erhöhung der Produktion durch den Schutz der Patente unmöglich zu machen.

Zumindest die EU will sich offenbar dem Vorstoß der USA anschließen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte, die EU sei willens, alle Vorschläge zu diskutieren, die darauf abzielen, mit der Krise auf eine effektive und pragmatische Weise umzugehen. „Deshalb sind wir bereit, zu diskutieren, wie der US-Vorschlag für einen Verzicht auf den Schutz des geistigen Eigentums für Covid-19-Impfstoffe dazu beitragen könnte, dieses Ziel zu erreichen.“

Biontech-Chef Sahin: Patente freigeben „keine Lösung“

Für Pharmaunternehmen selbst geht es dabei um viel Geld, machen sie doch bereits satte Gewinne mit den Vakzinen. Zudem haben sie Zeit, Mühen und Kapazitäten in die Entwicklung der Impfstoffe gesteckt. Der Dachverband der Pharmafirmen etwa verweist daher auch darauf, dass Pharmaunternehmen nur durch einen Patentschutz, der später Einnahmen garantiert, genügend Anreiz hätten, in Forschung zu investieren.

Die Vertretung der US-Pharmaunternehmen (PhRMA) kritisierte die Entscheidung der Regierung als „beispiellosen Schritt, der unseren globalen Kampf gegen die Pandemie untergräbt“. Das Vorgehen werde keine Leben retten, sondern die Lieferketten der Hersteller weiter schwächen und zur Verbreitung gepanschter Impfungen führen, warnte Verbandschef Stephen Ubl. Der in Genf ansässige Dachverband der Pharmafirmen erklärte zudem, dass vielmehr Handelsbarrieren sowie der Mangel an Rohstoffen und Bestandteilen das Problem seien. Zudem hätten die Impfstoffhersteller, gerade da ihre Patente geschützt seien, bereits mehr als 200 Technologietransfer-Abkommen abgeschlossen, um mit Partnern in ärmeren Ländern mehr Impfstoffe bereitstellen zu können. „Wir werden keine Mühe scheuen, um die Herstellung der Covid-19-Impfstoffe auszuweiten, denn niemand ist sicher, bis nicht alle sicher sind“, teilte der Verband mit.

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Biontech-Chef Ugur Sahin hatte sich jüngst bereits entsprechend zurückhaltender im Hinblick auf einen Verzicht auf geistige Eigentumsrechte geäußert: „Das ist keine Lösung“, sagte Sahin bei einer Veranstaltung des Vereins der Ausländischen Presse in Deutschland. Biontech setze auf enge Kooperationen mit ausgewählten Partnern, da sein Impfstoff schwierig herzustellen sei. „Es gibt Möglichkeiten, die wir erwägen, dass wir spezielle Lizenzen vergeben für kompetente Hersteller.“ Das stelle die Qualität des Vakzins sicher. Die Produktion durch Lizenznehmer könnte aber frühestens gegen Ende des Jahres einen Beitrag leisten.

Ganz anders: der Vorstandschef des Tübinger Biotech-Unternehmens Curevac, Franz-Werner Haas. Der hatte vor Kurzem in einem Interview mit der „Stuttgarter Zeitung“ gesagt, dass die Patente der Corona-Impfstoffe zwar grundsätzlich erteilt, in der Pandemiephase aber ausgesetzt werden sollten. „Wir brauchen einander“, sagt auch Curevac-Gründer Ingmar Hoerr zur Bekämpfung der Pandemie. „Das Brett, das wir bohren, ist einfach zu dick.“

Unternehmen wie Curevac, Biontech und Moderna sind derweil übrigens selbst auf Lizenzen von bestehenden Patenten angewiesen. Denn ihre Impfstoffe bauen auf früheren Forschungsergebnissen auf. Daher verhandelt beispielsweise Curevac derzeit mit der US-Behörde National Institute of Health (NIH) über die Lizenzierung eines Patents zu Spike-Proteinen. Biontech hatte sich die Lizenz schon im vergangenen Jahr besorgt, Monate bevor der Impfstoff ausgerollt wurde. Wie viele fremde Patente die Impfstoff-Hersteller grundsätzlich nutzen, ist unbekannt. Zu heikel sind die meisten Verhandlungen um Patentlizenzierungen.

(Mehr dazu, wie die Hersteller Corona-Impfstoffen von Patenten abhängen, erfahren Sie hier.)

Das dürfte auch im Fall der Corona-Impfstoffe nicht anders werden. Der jetzige Kursschwenk der US-Regierung könnte sehr wahrscheinlich eher langfristig und nicht sofort zu mehr weltweit verfügbaren Impfstoffen führen. Deutschlands Gesundheitsminister Jens Spahn sendete zunächst ein zurückhaltendes Signal – eher im Gleichklang mit Biontech-Gründer Sahin: „Die ganze Welt mit Impfstoff zu versorgen, ist der einzig nachhaltige Weg aus dieser Pandemie“, sagte der CDU-Politiker am Donnerstag. „Es gibt einige Ideen, wie wir dies ermöglichen können.“ Entscheidend sei aber vor allem der weitere Ausbau von Produktionsstätten. Zudem müssten die Staaten der Welt, in denen Impfstoff produziert wird, bereit sein, diesen auch an andere zu exportieren. „Die EU ist dazu in Wort und Tat bereit. Wir freuen uns, wenn die USA es nun auch sind“, sagte Spahn.

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Sollte sich die WTO aber auf eine Aussetzung der Patente einigen, könnte dies die langfristige Produktion deutlich ankurbeln. Die US-Handelsbeauftrage Katherine Tai erklärte zudem, die Biden-Administration werde sich nun, da die Versorgung der eigenen Bevölkerung garantiert sei, weiter in Zusammenarbeit mit den Unternehmen dafür einsetzen, die Produktion anzukurbeln. Wir werden „auch daran arbeiten, die Produktion der für die Herstellung der Impfstoffe nötigen Rohstoffe zu steigern“, erklärte sie weiter.

Konkret geht es bei dem Streit bei der WTO in Genf um das Übereinkommen zu handelsbezogenen Aspekten der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS-Abkommen). Mit diesen und anderen Vereinbarungen will die WTO den freien Handel in geordnete Bahnen bringen.

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Der internationale Pharmaverband IFPMA sprach am Mittwoch von einer „enttäuschenden“ Entscheidung. Die Aussetzung der Patente sei eine „simple aber falsche Lösung für dieses komplexe Problem“ und würde die Produktion der Impfstoffe nicht erhöhen, erklärte der Verband.

Mehr zum Thema: Wie gefährlich sind die Corona-Mutationen? Die Virologin Helga Rübsamen-Schaeff sagt voraus, dass es Dritt- oder Viertimpfungen geben wird und wie lange es dauert, um die Impfstoffe an die Mutationen anzupassen.

Mit Material von dpa und Reuters

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