Auswanderung Arbeitnehmer-Sonne scheint im Ausland

Besonders jüngere, gut ausgebildete Deutsche zieht es zum Leben und Arbeiten ins Ausland. Droht Deutschland ein Brain-Drain, der Verlust an Intelligenz und Talenten?

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Rene Bretschneider Quelle: Adidas

Die weißen Häuser! Die grünen Hänge! Die azurblauen Buchten! Und das Glitzern des Mittelmeers! René Bretschneider gerät ins Schwärmen, wenn er erzählt, wie er morgens beim Frühstück den Blick von seiner Terrasse genießt. Seit zwei Jahren wohnt er in Glyfada, einem beim griechischen Jetset beliebten Küstenvorort von Athen.

Griechenland, für Deutsche zurzeit eher Inbegriff von Staatspleite und Euro-Krise, ist für den 35-Jährigen aktueller Lebensmittelpunkt. Die zweieinhalbjährige Tochter besucht den griechisch-englischen Kindergarten, der vier Monate alte Sohn ist hier geboren.Wirtschaftswissenschaftler Bretschneider findet es "spannend, im Land die Krise aus einer anderen Perspektive zu erleben". Einen "Perspektivwechsel" und "das Einlassen auf eine andere Kultur" waren für ihn Gründe genug, mit der Familie ins Ausland zu gehen. Als der Marketingexperte das Angebot von Adidas bekam, für den Sportartikler in Griechenland zu arbeiten, zögerte er keinen Augenblick. Für ihn ist es ein Karriereschritt – er verantwortet von Athen aus die Marke Adidas in Südosteuropa. Pläne für die Rückkehr nach Deutschland? Nein, sagt Bretschneider, zurzeit nicht.

Brain-Drain

Jung, männlich, überdurchschnittlich gebildet: So wie René Bretschneider,  Absolvent der renommierten European Business School im hessischen Oestrich-Winkel, sieht der typische deutsche Emigrant aus. Schon geht in Deutschland die Sorge um, Deutschland drohe ein Brain-Drain, die Emigration von jungen, gut ausgebildeten, talentierten Fachkräften und Wissenschaftlern. Das Horrorszenario: Deutschland verödet. Die emigrierenden Qualifizierten fehlen den Hochschulen als Dozenten und Forscher, der Wirtschaft als Fachkräfte und dem Staat als Steuerzahler.

Und nicht nur hoch Qualifizierte kehren Deutschland den Rücken zu. Erstmals seit Ende der Sechzigerjahre meldete das Statistische Bundesamt für 2006, dass mehr Auswanderer Deutschland verlassen, als Einwanderer nach Deutschland kommen. Wobei drei von vier Menschen, die Deutschland in den vergangenen Jahren verlassen haben, Ausländer waren, umgekehrt fast jeder Sechste, der nach Deutschland zog, schon die deutsche Staatsbürgerschaft hatte. 2010 verzeichnete Deutschland jedoch nach vier negativen Jahren wieder einen positiven Migrationssaldo: 798 000 zogen aus dem Ausland zu, 671 000 verließen Deutschland.

Mehr Auswanderer als Rückkehrer

Bedenklich aber: Schon seit 2005 übersteigt die Anzahl der aus Deutschland auswandernden Deutschen die Zahl der deutschen Rückkehrer. Hier ist der Saldo nach wie vor negativ: 141 000 Deutsche verließen 2010 das Land, 115 000 kehrten aus dem Ausland zurück. Migrationsforscher Klaus Bade konstatierte schon vor Jahren eine "migratorisch suizidale Situation" für Deutschland: "Wir bluten aus." Zudem schüren Fernseh-Dokumentationen mit Titeln wie "Goodbye Deutschland" oder "Umzug in ein neues Leben" wöchentlich den Eindruck, Deutschland sei zum Auswanderungsland schlechthin geworden. Einzelschicksale wie das vom deutschen Metzger, der von Deutschland genug hat und mit seiner Bratwurstbude in Florida durchstarten will, sorgen für hohe Einschaltquoten.

Die politische Debatte dagegen konzentriert sich darauf, ob die Republik ausgerechnet ihre lang und teuer ausgebildeten Leute ans Ausland verliert: Ingenieure, Juristen oder Ärzte, die eine schrumpfende wie alternde Bevölkerung dringend braucht. Die sogenannte kreative Klasse ist mobil. Besondere Schelte trifft das deutsche Hochschulsystem. So arbeitet einer Studie zufolge in der Wirtschaftswissenschaft jeder zweite der 100 forschungsstärksten deutschen Volkswirte unter 45 Jahren außerhalb Deutschlands. Was die Forscher ins Ausland lockt: Häufig finden sie dort bessere Arbeits- und Forschungsbedingungen vor als an den verbürokratisierten deutschen Hochschulen.

Nicola Fuchs-Schündeln Quelle: Foto: Bert Bostelmann für Wirtschaftswoche

So erging es auch Nicola Fuchs-Schündeln. Die 38-Jährige hat in Köln Lateinamerikastudien und Volkswirtschaft studiert. Für die Promotion ging sie 1999 nach Yale "wegen des strukturierten Doktorandenprogramms" und lehrte anschließend als Assistenzprofessorin in Harvard. Zehn Jahre genoss Fuchs-Schündeln die "ansteckende Forschungsbegeisterung" an den amerikanischen Eliteuniversitäten. Seit vorletztem Jahr ist die Ökonomin jedoch wieder in Deutschland und lehrt als Professorin Makroökonomie und Entwicklung an der Universität Frankfurt. Keine Frage, sie hätte in den USA ihre Karriere fortsetzen können. Aber für sie und ihren Mann, ebenfalls ein Volkswirt, war immer klar: "In Deutschland fühlen wir uns heimisch.“ Bewusst pflegten sie die Kontakte in der Heimat, besuchten dort regelmäßig Konferenzen.

Viele Wissenschaftler kehren zurück

 Als beiden 2009 ein Lehrstuhl an der Goethe-Universität angeboten wurde, sagten sie zu. Der Zeitpunkt war günstig: Das Paar hat drei Söhne, die in den USA geboren wurden. „Als Teenager findet man es nicht lustig, quer über den Atlantik zu ziehen“, sagt Fuchs-Schündeln, „deshalb wollten wir lieber zurückkommen, als sie noch relativ jung waren.“ Wie Fuchs-Schündeln kehren viele Wissenschaftler nach einiger Zeit zurück nach Deutschland, bestätigen neue Studien. Die Migrationsforscher Lenore Sauer und Andreas Ette vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden haben nicht nur analysiert, wer das Land verlässt, sondern auch, wer mittelfristig zurückkehrt. Ihr wichtigster Befund: Es ist ein Trugschluss, dass Deutschland zu einem Auswanderungsland geworden sei.

Dauerhafter Abschied eher selten

Zwar ist richtig, dass sich die internationale Mobilität der Deutschen seit den Siebzigerjahren mehr als verdreifacht hat. Dies ist jedoch nicht auf Deutschland beschränkt. Länder wie Großbritannien, Schweden oder die Niederlande haben -sogar noch deutlich höhere Auswanderungsraten. Vor allem aber: Der Großteil der Deutschen verlässt die Heimat nur für einen begrenzten Zeitraum. So kehrten von etwa 122 000 Deutschen, die ihre Heimat zwischen 1996 und 2006 in Richtung EU-Ausland verließen, 95 000 wieder heim – eine Rückwanderungsquote von 78 Prozent.

Auch stellen hoch Qualifizierte die größte Gruppe unter den Auswanderern: Rund die Hälfte der 25- bis 64-Jährigen, die Deutschland verlassen, hat einen Hochschulabschluss. Jeder Zweite ist als „Wissenschaftler“ oder „Führungskraft“ tätig. Das gilt für die beiden beliebtesten Ziele deutscher Auswanderer, die USA und die Schweiz, ebenso wie für die EU-Länder.Doch ein dauerhafter Abschied von Deutschland ist besonders bei Akademikern eher selten: 85 Prozent der ausgewanderten Hochschulabsolventen kehrten in dem betrachteten Jahrzehnt wieder zurück.Deshalb sprechen Sauer und Ette lieber von „Brain-Circulation“ statt von „Brain-Drain“: Arbeitskräfte kehren reich an Erfahrungen wieder zurück – die hoch Qualifizierten im Schnitt bereits nach zwei Jahren. Nur jeder fünfte Emigrant bleibt der Heimat fünf Jahre oder länger fern.

Grafik: Bildung mach mobil Quelle: Bildungsinstitut für Bevölkerungsforschung, Wiesbaden

Eine Studie zur Internationalisierung von Managerkarrieren passt in dieses Bild. Ein, zwei Jahre Bewährungsprobe im Ausland fördern die Karriere, hat Markus Pohlmann von der Universität Heidelberg festgestellt. Doch dauerhafte Emigration nützt dem beruflichen Aufstieg nicht. „Wer länger als drei Jahre bleibt, verpasst daheim leicht den Anschluss an den Karrierezug“, sagt Pohlmann.Der Soziologe räumt mit dem Mythos von der globalen Führungselite auf, die mühe- und rastlos zwischen den Chefsesseln der Weltkonzerne wechsele. „Unternehmen sind in dieser Hinsicht konservativ“, sagt Pohlmann, „sie rekrutieren lieber In- als Outsider.“ Die Internationalisierung des Managements erfolge heute über die temporäre Entsendung der eigenen Fachkräfte zu einer Konzerntochter. So haben von den weltweit operierenden Dax-Konzernen 22 einen deutschen Vorstandschef.

In Deutschland mehr Spielraum

In der Lebensplanung der auswanderungswilligen Deutschen ist das Ausland vielmehr Zwischenstation als neue Heimat, zeigt auch eine Umfrage des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Derzufolge spielte jeder achte Deutsche 2009 mit dem Gedanken, ins Ausland zu gehen. Doch weniger als ein Drittel erwog dabei, unbegrenzt lang zu bleiben. Hoch Qualifizierte waren dabei im Schnitt weniger dauerhaft auswanderungsgeneigt.

Dazu trägt vermutlich auch bei, dass, vom Ausland aus gesehen, die Arbeits- und Lebensbedingungen in Deutschland gar nicht so schlecht sind. Hier könne sie sich „gestalterisch mehr einbringen – in Harvard läuft schon alles perfekt“, sagt die Ökonomin Fuchs-Schündeln. Sie hat in Frankfurt ein Doktoranden-Programm nach US-Vorbild ausgebaut. Der Vorteil nach dem Auslandsaufenthalt: Die Ökonomin verfügt über ein internationales Netzwerk, das ihr bei ihrer Forschung dient. Ein Schwerpunkt zurzeit: das Arbeitsangebotsverhalten von Frauen im internationalen Vergleich.

Eine Frage der Mobilität

Junge, qualifizierte Deutsche verlassen das Land also nicht, weil sie die Heimat satthaben oder hier keine Perspektive mehr sehen, sondern weil sie mobil sind: Diesen Schluss legen auch die Zahlen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung nahe. Männliche Rückwanderer und weibliche Rückwanderer sind mit durchschnittlich 33,5 und 31,1 Jahren überraschend jung. Und damit kaum älter als die Gruppe der Auswanderer, die im Schnitt 32 Jahre (Männer) und 30,5 Jahre (Frauen) alt sind.

Auch Adidas-Marketing-Manager Bretschneider möchte „die Zelte in Deutschland nicht komplett abbrechen“. Konkret werde das Thema Rückkehr vielleicht vor der Einschulung der Kinder. Zwischenzeitlich genießen die Bretschneiders in Glyfada „die Urlaubsatmosphäre, die sich hier trotz harter Arbeit schnell einstellt“. Und erfüllen sich damit einen Wunsch, den viele Deutsche aufs Rentenalter vertagen: Griechenland, Portugal und Spanien sind die beliebtesten Ziele sogenannter Ruhesitzmigranten. 

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