Der Chef des ukrainischen Energiekonzerns Naftogaz, Jurij Witrenko, fürchtet, dass nach Inbetriebnahme der neuen Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 kein russisches Gas mehr durch sein Land geleitet wird. „Wir sind zu 100 Prozent sicher, dass Nord Stream 2 den alleinigen Zweck hat, die Ukraine beim Gastransit auszuschalten“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“ (Montag).
Mit Blick auf den russischen Truppenaufmarsch an der Grenze sagte er, Kremlchef Wladimir Putin bereite eine militärische Invasion vor. „Und er will sicherstellen, dass dadurch keine negativen Folgen für den Handel mit Europa entstehen.“
An diesem Montag reist Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) inmitten der Krise zwischen Russland und der Ukraine zu Antrittsbesuchen nach Kiew und Moskau. Dabei wird auch Nord Stream 2 ein wichtiges Thema sein. Der Staatskonzern Naftogaz betreibt das 38.000 Kilometer lange Gasnetz durch die Ukraine, das bisher auch russisches Gas nach Mitteleuropa transportiert. Noch bis Ende 2024 verdient die finanziell klamme Ex-Sowjetrepublik jährlich umgerechnet über eine Milliarde Euro am Transit.
„Bomben werden den Pipelines gelten“
Moskaus Ziel sei es, diesen Transit auszuschalten, sagte Witrenko. Daran änderten auch Zusagen nichts, bestehende Transitverträge zu verlängern. Im Falle einer russischen Invasion werde es keine Leitungen mehr durch die Ukraine geben, sagte er. „Die ersten Bomben werden den Pipelines gelten.“
Nord Stream 2 ist fertiggestellt, aber noch nicht in Betrieb. Viele Verbündete Deutschlands befürchten, dass damit die Abhängigkeit von russischem Gas steigt.
Baerbock stehen brisante Antrittsbesuche in Kiew und Moskau bevor
Baerbock reist am Montag zunächst zu ihrem Antrittsbesuch in die Ukraine, wo sie Präsident Wolodymyr Selenskyj und Außenminister Dmytro Kuleba trifft. Noch am Abend reist sie nach Moskau weiter. Dort stehen am Dienstag unter anderem Gespräche mit Außenminister Sergej Lawrow an.
Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, hatte Baerbock kurz vor ihrem Besuch eindringlich aufgefordert, Kiew die Lieferung von Waffen zur Landesverteidigung zuzusagen. Die Zurückhaltung oder Ablehnung von Rüstungshilfe sei „sehr frustrierend und bitter“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Der ukrainische Außenminister Kuleba machte seine Erwartungen an Deutschland in der „Bild am Sonntag“ zurückhaltender als Melnyk deutlich. „Wir erwarten von der neuen Bundesregierung einen festen und deutlichen Kurs gegenüber den russischen Drohungen und Einschüchterungsversuchen – zusammen mit der Ukraine und unseren Partnern und Alliierten“, sagte der Minister. „Kein Geschäftsinteresse und kein Bedürfnis danach, Verständnis für Putin zu zeigen, sind es wert, einen blutigen Krieg in Europa zuzulassen.“
Der russische Kreml spricht bei der militärischen Eskalation an der Grenze zur Ukraine hingegen weiterhin von „falschen Anschuldigungen“ und der Verbreitung von Lügen. Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte im Interview mit dem US-Fernsehsender CNN, dass die US-Regierung die angekündigten Belege für eine militärische Eskalation von russischer Seite an der Grenze zur Ukraine bisher nicht vorgelegt habe. Auf die Frage, ob Russland einen Überfall auf die Ukraine ausschließen könne, sagte er ausweichend, dass es diesen augenscheinlich nicht gebe. Peskow wies auch Vorwürfe zurück, Russland sei für den Hackerangriff auf Internetseiten der ukrainischen Regierung am Freitag verantwortlich. „Russland hat mit diesen Cyberattacken nichts zu tun.“
Deutschland und die Ukraine wollen Normandie-Format wiederbeleben
Deutschland und die Ukraine wollen im Konflikt mit Russland einen neuen diplomatischen Vorstoß unternehmen und streben dafür die Wiederbelebung des sogenannten Normandie-Formats an. Dies machten Bundesaußenministerin Baerbock und der ukrainische Ressortchef Kuleba nach ihrem Treffen am Montag in Kiew deutlich. „Diplomatie ist der einzige gangbare Weg, um die derzeitige hochgefährliche Situation zu entschärfen“, sagte Baerbock. Sie habe mit dem französischen Außenminister Jean-Yves Le Drian bereits vereinbart, alles dafür zu tun, das Normandie-Format auf allen Ebenen wieder in Gang zu bringen. Dem Format gehören Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine an.
Unter Vermittlung der Regierungen in Berlin und Paris hatten sich Russland und die Ukraine 2015 auf das Minsker Abkommen verständigt, mit dem der Osten der Ukraine befriedet werden soll. Dort stehen sich seit Jahren die ukrainische Armee und pro-russische Separatisten gegenüber. Baerbock kündigte an, sie werde am Dienstag in Moskau mit dem russischen Außenminister Lawrow ebenfalls über neue Gespräche in dieser Zusammensetzung sprechen. Kuleba regte an, schon bald ein Treffen auf Ebene der Außenminister zu organisieren. Baerbock nannte die Lage in der Ostukraine „mehr als bedrückend“. Zugleich bekräftigte sie, sollte Russland in die Ukraine einmarschieren, hätte dies „einen hohen Preis“. Die Lieferung von Waffen an die Ukraine lehnte die Grünen-Politikerin allerdings mit Verweis auf die deutsche Geschichte erneut ab.
Ampelkoalition wegen Nord Stream 2 uneinig
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte zuletzt betont, es handele sich ein kommerzielles, kein politisches Projekt. Dazu sagte Witrenko: „Die einzige ökonomische Logik ist, dass Putin die Ukraine für ihre proeuropäische Wahl bestrafen kann.“ Davon profitiere auch Deutschland, wo die Nord-Stream-Pipeline endet. „Für mich ist das, von einem moralischen Standpunkt, schwer zu akzeptieren.“
Den Ukrainern sei zwar bewusst, dass im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP eine restriktive Rüstungsexportpolitik festgeschrieben sei, die keine Waffenlieferungen in Krisengebiete zulasse, sagte Melnyk. „Aber dieses politische Dokument ist ja keine Bibel. Und die Welt steht derzeit vor der größten Gefahr eines riesigen Krieges mitten in Europa, des schlimmsten seit 1945.“ Die Staatlichkeit der Ukraine werde vom russischen Präsidenten Wladimir Putin bedroht. Die Ukrainer hätten das „heilige Recht auf Selbstverteidigung“.
Die Ukraine fordert seit Jahren Waffenlieferungen von Deutschland, um sich gegen einen möglichen russischen Angriff verteidigen zu können – bisher ohne Erfolg. Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck hatte allerdings im vergangenen Mai im Wahlkampf bei einem Besuch in der Ukraine gesagt, man könne dem Land „Defensivwaffen“ kaum verwehren.
Auch der designierte CDU-Vorsitzende Friedrich Merz plädiert angesichts des russischen Truppenaufmarschs an der Grenze zur Ukraine dafür, Waffenlieferungen in Erwägung zu ziehen.
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