Baltikum Absturz der EU-Musterschüler

Nirgendwo wuchs Europa so rasant wie im Baltikum. Jetzt stecken die EU-Musterschüler tief im Sumpf der Krise - aus unterschiedlichen Gründen.

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Wohnsiedlung in Tallin, Estland Quelle: Laif

Düster ist die Nacht im Baltikum. Eine Stunde vor Sonnenaufgang gehen in Estlands Hauptstadt Tallinn die Lichter aus. Grünanlagen und Parkplätze liegen ganz im Dunkeln, jede dritte Straßenlampe ist abgeschaltet. Rund 750.000 Euro will der Magistrat einsparen. Das ist zwar nur ein kleiner Posten im Budget der 400.000 Einwohner zählenden Ostsee-Stadt. Doch Estland steckt so tief in der Finanz- und Wirtschaftskrise, dass jede eingesparte Krone zählt.

Bald nach ihrem Beitritt im Mai 2004 galten die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen als Musterbeispiele gelungener EU-Integration, die den Rest des Kontinents mit zuweilen zweistelligen Wachstumsraten beeindruckten. Das Geld für massiven Konsum, horrende Staatsinvestitionen und gewaltige Bauprojekte lieferten vor allem skandinavische Banken.

Nun stürzen die Tigerstaaten ab wie sonst kaum ein Land in Europa, das BIP schrumpft zweistellig. Die Arbeitslosenquote wird am Jahresende nirgendwo unter zehn Prozent liegen. Sanierungsfall Lettland hat bereits eine Stütze über 7,5 Milliarden Euro von Internationalem Währungsfonds (IWF), EU und skandinavischen Ländern in Anspruch genommen, Litauen wird wohl bald folgen. Mit letzter Kraft steuert das Baltikum auf einen rettenden Hafen zu: die Euro-Zone.

Die Symptome gleichen sich, Ausmaß und Gegenstrategien sind verschieden. „Estland, Lettland und Litauen sind drei völlig verschiedene Volkswirtschaften“, betont der estnische Premierminister Andrus Ansip. Dem drahtigen Mann mit den stahlblauen Augen sieht man an, dass er in den letzten Monaten wenig geschlafen hat. Mit dem Rotstift hat er den Staatshaushalt überarbeitet, um das Defizit unter drei Prozent zu drücken. Das schreiben die Maastricht-Kriterien vor, die zu erfüllen Estlands oberstes politisches Ziel ist.

Euro-Kandidat Estland

Durch exzessiven Staatskonsum ist das kleinste der baltischen Länder anders als Lettland und Litauen in den vergangenen Jahren nicht aufgefallen. Aber Unternehmen und Privatleute haben die Auslandsverschuldung über das Bruttoinlandsprodukt getrieben. Solange die an den Euro-Kurs gebundene Währung nicht abgewertet wird – wogegen sich die Regierungen aller baltischen Staaten vehement wehren –, bleiben Investoren und Banken scheu.

Wirtschaftswachstum der baltischen Staaten

Im Juli nächsten Jahres will Estland der Euro-Zone beitreten. In Brüssel hält man den 1. Januar 2011 für realistischer. Die Euro-Einführung, glaubt Premier Ansip, würde das Land über Nacht stabilisieren. Deswegen hat er die Gehälter der Staatsbediensteten um ein Fünftel kürzen lassen, auch sein eigenes Salär. Das hält nebenbei die Inflation unter der Drei-Prozent-Hürde. Zumal auch Unternehmer die Löhne nicht mehr wie zuletzt um 20 Prozent jährlich erhöhen, sondern sich mit Lohnkürzungen und Entlassungen gegen die Wirtschaftskrise stemmen.

Ansips Maßhalte-Kampagne hat einen politischen Preis: Der Regierung fehlt das Geld, um mit antizyklischer Ausgabenpolitik gegen die Krise anzusteuern. Zähneknirschend muss sie mit ansehen, wie die Wirtschaft kollabiert, die Arbeitslosigkeit wächst und Verunsicherung in der Bevölkerung wuchert. Ein wirtschaftlicher Absturz, der unabwendbar scheint, hat schon so manche Regierung zu Fall gebracht.

Krawalle in Riga, Lettland Quelle: rtr

In den Vielparteiensystemen Lettland und Litauen verheizt die nachhaltige Unzufriedenheit mit der politischen Klasse seit 1990 fast jährlich eine Regierung. Valdis Dombrovskis, der neue Premier von Lettland, muss sich mit fünf Partnern arrangieren. Sein litauischer Amtsbruder Andrius Kubilius regiert mit einer wackeligen Vierer-Koalition. Für eine schnelle und effiziente Krisenpolitik sind das denkbar schlechte Voraussetzungen.

Die Letten mussten schon im vorigen Dezember IWF und EU um 7,5 Milliarden Dollar anbetteln, um den Zusammenbruch des Finanzsystems im größten baltischen Staat zu verhindern. Die Insolvenz der Parex Bank, Lettlands zweitgrößtem Institut, hätte den Staat in den Bankrott getrieben und die Bevölkerung ihre Ersparnisse gekostet. Doch seither zwingt Washington die Letten erst recht zum Haushalten. Insgesamt soll die Regierung in Riga fünf bis sieben Prozent des BIPs einsparen, trotzdem wird es ein Budgetdefizit in ähnlicher Größenordnung geben. Schon zu Jahresbeginn kappte der alte Premier die Gehälter im öffentlichen Dienst um 15 Prozent. Nachfolger Dombrovskis legt diesen Monat nach und kürzt noch einmal um bis zu 20 Prozent. Zugleich steigt die Mehrwertsteuer von 18 auf 21 Prozent.

Vor der Pleite retten

Die Belastungen treffen einfache Beamte, die in den Boomjahren keine 30-prozentigen Gehaltserhöhungen bekommen hatten wie Angestellte der Privatwirtschaft. Jüngst gingen die Lehrer zu Tausenden auf die Straße und beschimpften nicht nur die Regierung, die das Land nicht mehr kontrollieren kann. Sondern auch jene, die das Chaos angerichtet hätten: die Banker.

Leute wie Erkki Raasuke. Der 38-jährige Karrierebanker aus Estland war dabei, als der Konsumboom die baltischen Volkswirtschaften aufblähte wie einen Luftballon. Und als es knallte. Raasuke leitete bis vor Kurzem die Hansabank, das größte Geldinstitut im Baltikum, eine 100-prozentige Tochter der schwedischen Swedbank. Hätte er nicht erkennen müssen, dass die Ökonomien völlig überhitzt waren? Dass das Wachstum auf Pump gebaut wurde? Dass der Absturz drohte?

Hätte er, meint Morten Hansen. „Vor allem ausländische Banken haben in den letzten vier Jahren hemmungslos billiges Geld in die Märkte gepumpt und damit den Boom finanziert“, doziert der Wirtschaftsprofessor von der Stockholm School of Economics in Riga. „Wer das Spiel nicht mitspielte, verlor sofort Marktanteile.“ Trotzdem ist jetzt die Präsenz skandinavisch kontrollierter Banken ein wichtiger Stabilitätsfaktor. Die werden nämlich von ihren Mutterhäusern mit Staatshilfen versorgt, was auch ihren baltischen Töchtern zugute kommt. Estland und Litauen stehen dadurch heute stabiler da als Lettland, wo es noch national kontrollierte Banken gibt.

Die EU-Kommission machte in den vergangenen Wochen immer wieder deutlich, dass schwächelnde Staaten im Zweifel mit Unionsgeldern vor der Pleite gerettet werden. Doch die Durststrecke ist noch lang. Was könnte beispielsweise die lettische Regierung noch tun, um den Trend zu drehen? „Nichts“, sagt Morten Hansen, der Ökonom aus Riga. „Sie muss die Anweisungen des IWF befolgen und abwarten.“ Bis es wieder hell wird im Baltikum.

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