Nach Einschätzung des Präsidenten des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, kann Griechenland eine neue Staatspleite nur abwenden, wenn es aus der Euro-Zone ausscheidet. „Es steht ein weiterer Staatskonkurs mit einem heftigen offenen oder versteckten Schuldenschnitt an, dem in den kommenden Jahren immer wieder neue Kredite und Schuldenschnitte folgen werden, wenn das Land seine Wettbewerbsfähigkeit nicht durch den Austritt aus dem Euro und eine Abwertung seiner Währung wiederherstellt“, sagte Sinn dem Handelsblatt (Online-Ausgabe).
Sinn setzt in dieser Hinsicht auf den Chef der radikalen Syriza-Partei, Alexis Tsipras. Dieser sei einer der wenigen griechischen Politiker, „die die Natur des Problemsverstanden haben und deshalb bereit sind, Wagnisse einzugehen“, sagte der Ökonom. Dass Tsipras die griechischen Reparationsforderungen gegenüber Deutschland wieder auf den Tisch legen wolle, gehöre allerdings zu den „vielen unerfreulichen Aspekten des Geschehens“, fügte Sinn hinzu.
Zukunftsszenarien für Griechenland
Die Eurogruppe billigt einen Schuldenschnitt, die Banken erlassen dem Land daraufhin 100 Milliarden Euro. Somit gibt es auch grünes Licht für weitere Hilfen der Eurozone in Höhe von insgesamt 130 Milliarden Euro. Die Europäische Zentralbank (EZB) füllt eine Finanzlücke, damit Griechenlands Schuldenstand bis 2020 wie angepeilt sinken kann. Im Gegenzug unterwirft sich Griechenland einer strikten Überwachung der EU und gibt Kompetenzen in der Haushaltspolitik ab. Das Land leidet noch jahrelang unter Einsparungen, innenpolitischer Unruhe und Rückschlägen. Der Weg zu einer Erholung ist lang und mühsam.
Die Eurozone will zunächst keine weitere Hilfe zusagen. Problem ist der für 2020 trotz Hilfspaket und Gläubigerverzicht erwartete Schuldenstand von 129 Prozent der Wirtschaftskraft, anstatt der angestrebten 120 Prozent. Der Rettungsplan muss also überdacht werden. Zudem wählen die Griechen im April. Die Euro-Länder wollen das Votum abwarten und mit den dann regierenden Parteien Vereinbarungen über Einsparungen und Reformen treffen, bevor sie weiteres Geld überweisen. Mit restlichen Mitteln aus dem ersten Hilfsprogramm wird ein im März drohender Bankrott vorerst verhindert.
Nach zwei Jahren Schuldenkrise nimmt die Eurozone einen Kurswechsel vor: Griechenland soll kontrolliert in die Pleite geführt werden, jedoch in der Eurozone bleiben. Nun kommen Milliardenkosten nicht nur auf die privaten Gläubiger, sondern auch auf die EZB zu: Athen ändert per Gesetzesänderung die Haftungsklauseln für seine Staatsanleihen - und erzwingt einen Verzicht. Die EU arbeitet an einem finanziellen und wirtschaftlichen Neustart des Landes, der ebenfalls viel Geld kostet.
Der Rettungsplan scheitert, die Griechen haben zudem Vorschriften und Kontrolle der Euro-Länder satt. Das Land erklärt seinen Bankrott und die Rückkehr zur Drachme. Wirtschaft und Finanzbranche werden über das Land hinaus erschüttert, Firmen und Banken gehen pleite. Die Kaufkraft der Griechen nimmt massiv ab, soziale Unruhen sind die Folge. Mit der Drachme sind griechische Produkte auf dem Weltmarkt zwar billiger, ein positiver Effekt auf die marode Wirtschaft zeigt sich jedoch nur sehr langsam. Die Europäische Union bemüht sich mit Konjunkturprogrammen, den weiteren Absturz des Landes zu mildern.
In Griechenland stehen am 25. Januar Neuwahlen an, bei denen die linkspopulistische Syriza-Partei die besten Aussichten hat, stärkste Kraft zu werden. Deren Parteichef Tsipras hat angekündigt, das Sparprogramm zu beenden, zu dem sich das Land im Gegenzug zu Finanzhilfen internationaler Geldgeber verpflichtet hat, und über Schuldenerlasse zu verhandeln.
Deutschland hat sich an den beiden Kredithilfe-Paketen für Griechenland mit gut 50 Milliarden Euro beteiligt. Von den Forderungen deutscher Banken an den griechischen Staat von gut 15 Milliarden Euro entfällt der überwiegende Teil auf die staatliche Förderbank KfW.
Griechische Löhne doppelt so hoch wie die polnischen
Der Ifo-Chef sieht dringenden Handlungsbedarf, zumal sich die Lage in Griechenland seit Jahren verschlechtere. „Die griechische Wirtschaftssituation ist unerträglich für die Bevölkerung, und die fortwährenden Neukredite sind unerträglich für die Staatengemeinschaft“, sagte Sinn.
Griechenland habe heute doppelt so viele Arbeitslose wie noch im Mai 2010. Damals sei der Euro-Austritt des Landes unter Bruch von Artikel 125 des EU-Vertrages durch öffentliche Kredite der Staatengemeinschaft verhindert worden, und es sei beteuert worden, das Land komme schnell wieder auf die Beine. „Die Wahrheit ist, dass Griechenland einen Einbruch der Industrieproduktion gegenüber dem Vorkrisenniveau um etwa 30 Prozent erlebt hat, dass es nach wie vor meilenweit von der preislichen Wettbewerbsfähigkeit seiner Wirtschaft entfernt ist“, betonte der Ifo-Chef.
Unmut im Europaparlament über Ausstiegsszenarien
So seien die griechischen Löhne doppelt so hoch wie die polnischen. Zudem fahre das Land nach dem Staatskonkurs des Jahres 2012 immer noch „riesige Staatsdefizite“, die von der EU-Kommission „mühsam und trickreich geschönt“ werden müssten, obwohl die Europäische Zentralbank (EZB) alles versucht habe, die Zinsen auf griechische Staatspapiere zu drücken.
Griechenland war und ist in dieser Hinsicht ein Sonderfall. Während andere Wackelkandidaten wie Portugal oder Irland ihre milliardenschweren Rettungsprogramme ohne großes Getöse abschlossen und an die Finanzmärkte zurückkehrten, streitet sich Athen mit der „Troika“ der Geldgeber weiter um Reformen und Budgetzahlen.
Ende erst einmal nicht absehbar: Der europäische Teil des Rettungsprogramms musste wegen des Ringens in Athen ins neue Jahr hinein verlängert werden. Auch wegen dieser Blockade reagiert die EU-Kommission ausweichend und lapidar auf Berichte, wonach Berlin bei einem Sieg des Linksbündnisses von Tsipras einen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone für verkraftbar halte. Eine Sprecherin bemüht den EU-Vertrag. Der sagt ganz klar: Die Euro-Mitgliedschaft ist unwiderruflich.
Mit Kommentaren zur griechischen Innenpolitik hält sich Brüssel inzwischen merklich zurück. Mit den Parlamentswahlen sei „andere Stufe des Verfahrens erreicht“, erklärt ein Sprecher den Kurswechsel.
Noch im Dezember hatte die vom konservativen Luxemburger Jean-Claude Juncker geführte Riesenbehörde offen die Kandidatur des früheren EU-Kommissars Stavros Dimas für das Präsidentenamt in Athen unterstützt. Der konservative Anwärter scheiterte jedoch. Es blieb der Eindruck von Absprachen: Regierungschef Antonis Samaras hatte das Vorziehen der Präsidentenwahl offensichtlich vorher mit europäischen Partnern abgestimmt.
Angesichts der offiziell nicht dementierten Berichte über Austrittsszenarien regt sich deutlicher Widerstand im Europaparlament. Kräfte der deutschen Rechten versuchten, wie „ein Sheriff in Griechenland“ aufzutreten, kritisiert der Fraktionschef der Sozialisten, Gianni Pittella. „Ein hypothetischer griechischer Ausstieg ist einfach keine Option“, resümiert der Italiener.
Der deutsche Grünen-Europaabgeordnete Sven Giegold meint, die Spekulationen vom Wochenende seien eine „schädliche und gefährliche Einmischung in den griechischen Wahlkampf“. Die Bundesregierung wies Vorwürfe einer Wahleinmischung umgehend zurück.
Griechenland ist auch deshalb ein Sonderfall, weil es in der Krise „Einmischungen“ der massiven Art bereits gab. Diplomaten erinnern sich noch gut an den Nervenkrieg beim G20-Gipfel Anfang November 2011 in Cannes, als Berlin und Paris den damaligen Regierungschef Giorgos Papandreou überzeugten, ein Referendum zu den internationalen Hilfen abzublasen.
Der damalige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy drohte unverhohlen, die Euro-Zone sei auf den Austritt vorbereitet, falls sich Griechen dem Sparen verweigern sollten. „Wir sind gewappnet“, lautete damals das Credo von Bundeskanzlerin Angela Merkel an der sturmgepeitschten Mittelmeerküste.
Hinter den Kulissen wird bei der EU gewarnt, den möglichen griechischen Wahlsieger Tsipras zu verteufeln. Auch er werde Kompromisse machen und in einer Koalition regieren müssen. Ein neuer Schuldenschnitt, der inzwischen fast nur noch öffentliche Kreditgeber treffen würde, wird in Brüssel abgelehnt.